Mich trägt mein Traum

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 19.06.2014, 22:57:27

Ein sehr schöner Teil :) Die Verschmelzung mit ihrer Rolle gefällt mir sehr gut und auch ihre Angst beschreibst du toll. Vor ein oder zwei Jahren hätte Anouk sich sicherlich nicht träumen lassen den Darsteller, den sie so bewundert, einfach so zu küssen ;) Ich bin gespannt, was nis zur Premiere noch so alles passiert.
Ich bin die nächsten zwei Wochen wenig bis gar nicht online, weshalb Kommentare - falls neue Teile kommen - wahrscheinlich erst danach wieder kommen. Ich freu mich trotzdem schon sehr darauf, wie es weitergeht!
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 20.06.2014, 15:36:47

Eponine Thénardier hat geschrieben:Eine Frage noch: Ich fand bei den Wicked-Teilen, dass Mara so eine sympathische Figur ist - hören wir noch mal was von ihr? :)

Ich gestehe, dass ich mit Nebenpersonen immer etwas ungnädig bin, heißt: ich vergesse sie einfach :oops: Aber danke für die Erinnerung, die hat mich sofort inspiriert. Ist im neuen Teil zu lesen :)
@Gaefa: Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen ;)

Es kam in meinem Leben öfter vor, dass ich liebgewonnene Menschen trotz inniger Freundschaft vergaß. Ich war – und bin – einfach nicht der Typ, der sich von allein bei allen meldet. Ich warte lieber, und wenn nichts kommt, deute ich das als Zeichen, dass der andere nichts mehr mit mir zu tun haben will. Ich weiß, ich weiß, das ist grundsätzlich falsch. Das bemerkte ich an einem kalten, regnerischen Samstagabend.
Die Proben fingen an, anstrengend zu werden, und ich genoss es, mich mit einer Tüte Chips vor den winzigen Fernseher zu setzen. Ich zappte eine Weile rum, aber ich fand nichts, was mir gefiel. Ich begann mit dem Ersten und hörte auf Viva auf, und dann ging ich die Sender wieder durch, bestimmt fünfzehn Minuten lang. Bis ich plötzlich glaubte, ein bekanntes Gesicht zu sehen. – Kein berühmtes Gesicht, sondern jemanden, den ich privat kannte. Ich schaltete zurück. Auf Pro7 lief eine Sendung namens „Young and special“, so etwas wie Das Supertalent, nur niveauvoller: Gesangslehrer, Regisseure oder andere Bezugspersonen halfen ihren Schützlingen dabei, ihre größten Wünsche zu erfüllen, nämlich eine professionelle Ausbildung in ihrem Hobby. Das Publikum bestand überwiegend aus Sponsoren, Produzenten und Direktoren von irgendwelchen Schulen. Und ich hatte mich nicht geirrt, was das bekannte Gesicht anging: da stand Mara, meine Wicked-Glinda, in einem wunderschönen, fantasievollen, dunkelblauen Kleid. Mit blondem, hochgestecktem Haar und theatralisch geschminkten Augen. Sie lächelte nervös in die Kamera, und dann beschränkte sich die Beleuchtung auf die Bühne. Im Hintergrund hob ein Dirigent die Arme, um das nicht gerade kleine Orchester zu dirigieren. Mir fiel wortwörtlich das Kinn auf die Brust, als sie zu singen begann. Mara, die so unschuldig und niedlich als Glinda wirkte, verwandelte sich in eine bösartige Königin der Nacht und trällerte einwandfrei die Arie „Der Hölle Rache“ aus Mozarts Zauberflöte. Ich konnte nur dasitzen und glotzen ob dieser unwirklichen Situation. Der Schlusston war gigantisch, und das Publikum war völlig aus dem Häuschen. Der Moderator wuselte auf Mara zu, und es folgte ein langes Interview. Mara hatte also weiterhin Gesangsstunden genommen, hatte aber wegen einer Kehlkopfentzündung nicht an der Aufnahmeprüfung zur Opern-Sängerin teilnehmen können. Nach einer langwierigen Krankheit probte sie mit neuem Elan weiter, und ihre Gesangslehrerin, eine russische, etwas burschikose Frau, hatte sie bei der neuen Fernsehshow angemeldet.
„Nun, meine Damen und Herren“, wandte der Moderator sich an sein professionelles Publikum, „Sie haben Maras Geschichte gehört. Alles läuft wie gehabt; sie füllen bei Interesse den beiliegenden Zettel aus.“ Er strahlte wieder in die Kamera. „Schon am Ende dieser Show wird bekannt gegeben, welcher Teilnehmer – oder welche Teilnehmerin – die Möglichkeit einer Ausbildung oder eines Studiums bekommt. Also, bleiben Sie dran und gewinnen Sie mit etwas Glück 10.000 Euro!“ Werbung. Ich kramte nach meinem Handy und hoffte, dass Mara es mir nicht übel nehmen würde, dass ich ihr jetzt, da sie im Fernsehen war, schrieb.
Habe dich durch Zufall auf Pro7 gesehen; du bist der Wahnsinn! Ich drücke die Daumen für dich! Anouk.
Ich bekam keine Antwort, womit ich gerechnet hatte. Trotzdem verfolgte ich gespannt die Sendung; es folgte ein etwas schräger, aber sehr überzeugender Nachwuchs-Schauspieler, eine weitere Sängerin und eine Turnerin, die mit Gummischläuchen statt mit Knochen geboren zu sein schien. Dann noch mal ein endlos langer Werbeblock inklusive über-einfachem Gewinnspiel. Anschließend wurden endlich alle Teilnehmer auf die Bühne geholt. Der Moderator sagte tausend Mal, wie toll alle waren und erklärte noch einmal das System: es würden nun nach und nach alle Regisseure, Produzenten und so weiter, die sich für jemanden entschieden hatten, auf die Bühne begeben und ihre Entscheidung bekannt geben. Es dauerte zehn Minuten und viele Freudentränen, ehe ein Herr Leonóva einer Wiener Musikhochschule schlicht bekannt gab, Mara aufzunehmen. Ich sprang vor Freude in die Höhe und wünschte mir, Mara in den Arm nehmen zu können. Die konnte ihr Glück noch gar nicht fassen.
Eine Stunde später trudelte ihre Antwort bei mir ein: Danke :-) Ich kann’s gar nicht fassen, ich bin genommen! Wir müssen uns auch noch mal sehen; ich habe eine Karte für Rebecca bestellt, am 27.1.!
Lächelnd schrieb ich zurück, dass ich mich jetzt schon auf unser Treffen freute. Das einschlafen fiel mir an diesem Abend besonders schwer; ich war plötzlich ganz kribbelig und lampen-fiebrig auf meinen eigenen, ersten Auftritt.

In der folgenden Woche wurde ich zurück nach Hannover beordert, da es Zeit für eine Zwischenprüfung war: wir mussten unsere Grease-Choreographie vortanzen. Glücklicherweise war ich „aufgrund eines vorrangigen Engagements“ von der 42nd Street-Stepp-Choreographie ausgeschlossen worden. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich diese komplizierten Schritte lernen sollte.
Meine Mitschüler bestürmten mich mit Fragen, aber ich fühlte mich unwohl und auf eine unangenehme Art… fremd. Die Zeit hier lief weiter. Trotzdem beantwortete ich ihre Fragen, so gut ich konnte. Kurz vor der Vorführung – wir standen hinter der Bühne und trugen wunderschöne Petticoats – fing Michael mich ab.
„Hast du das von Mara gehört?“, fragte er.
„Ich hab’ sie sogar gesehen!“, erwiderte ich. „Am Samstag. Ich dachte, ich gucke nicht richtig!“
„Du wusstest gar nichts davon?“ Er klang erstaunt.
„Nein“, antwortete ich schuldbewusst. „Wir haben uns irgendwie aus den Augen verloren…“
„Mir hat sie geschrieben“, sagte Michael. „Aber wir haben – oder hatten – auch mehr miteinander zu tun. Mann, sie wird tatsächlich Opernsängerin! Da können wir wohl einpacken…“
„Nicht verzagen“, lachte ich und klopfte ihm auf die Schulter.
Die Choreographie war, wie befürchtet, schrecklich. Ich konnte mich an weniger erinnern, als ich gedacht hatte, und hüpfte und tänzelte in der letzten Reihe vor mich hin.
„Nun, Anouk“, sagte Frau Kurth und warf mir einen halb wohlwollenden, halb enttäuschten Blick zu, „das hätte tatsächlich besser laufen können.“
Ich rutschte ein Stück tiefer in meinen Stuhl. „Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe mich auch wirklich bemüht, alles zu lernen und zu behalten, aber…“
Sie nickte. „Ich bin nachsichtig“, erwiderte sie. „Aber nach ihrem Engagement möchte ich von Ihnen neue Leistungen sehen, besonders in Ballett. Ich weiß, das wird schwer sein, aber Sie dürfen sich nicht auf Ihren Lorbeeren ausruhen.“ Als ob ich das jemals täte.
Wir sprachen noch eine Weile über Rebecca, dann verbrachte ich einen netten Nachmittag mit meinen Freunden. Und nach einer schlaflosen Nacht in meinem unpersönlich gewordenen WG-Zimmer hieß es schon wieder: auf nach Berlin. Mit Mrs. Paiges Ankündigung im Gepäck, mich in zwei Wochen bei den Proben besuchen und sich ein Urteil des Ensembles über mich einzuholen. Ich schloss erschöpft die Augen. Ich würde mich so sehr anstrengen, dass sie kein schlechtes Wort über mich hören würde!
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 21.06.2014, 12:32:09

Wie schön,dass sie wieder Kontakt mit Mara hat,und toll,dass Mara auch Erfolg hat :).

Erst mal sollst du - ich glaube,ich wiederhole mich ;) - wissen,dass ich deine Geschichte sehr mag und mich immer sehr freue,wenn wieder ein neuer Teil hier zu finden ist.
Nur eine Sache möchte ich kurz anmerken: Klar verändert so ein Erfolg,wie Anouk ihn grade erlebt, einen Menschen,und es ist auch irgendwie bezeichnend zu sehen dass ihr Hotelzimmer und die Leute im Ensemble ihr schon viel vertrauter und persönlicher erscheinen als ihre Mitschüler und ihre WG....aber bitte lass sie nicht zu sehr abheben! Ich freue mich,dass sie an Selbstbewusstsein gewinnt,aber bitte bewahre ihr ihren etwas schüchternen und sympathischen Charakter.
Das soll keine böse Kritik sein,nur eine leichte Befürchtung die ich in Hinblick auf die Entwicklung der Figur habe,von der ich es sehr schade fände,wenn sie wirklich eintreffen würde (ich hoffe du verstehst,wie ich das meine?)^^.
Ansonsten hoffe ich,dass du noch einige Teile postest,weil ich grade deine Geschichte sehr mag :handgestures-thumbupright:
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 22.06.2014, 10:40:12

Ein sehr schöner Teil! ;)
Der Teil mit Mara gefällt mir sehr gut, auch wie du beschreibst, dass Michael überrascht ist, weil Anouk ihre alten Freunde ein bisschen vergessen zu haben scheint.
Hoffentlich findet bald mal ein klärendes Gespräch mit daniel statt - und hoffentlich kann sie sich mit ihrem Freunden von der Schule darüber aussprechen, dass sie sich dort im Moment nicht wohl fühlt - wäre ja schade, wenn ihre Beziehungen dort durch Berlin in die Brüche gingen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Dori » 22.06.2014, 15:33:29

Ich finde den Teil auch wieder sehr gut gelungen, sehe das aber ähnlich wie little miss sunshine.
Anouk soll sich mal daran erinnern, dass sie eigentlich noch Schülerin im 2. Jahr ist. Soll aber keine Kritik sein. ;) Ich wünsche ihr, dass sie das mit Daniel klärt und ihre Freunde im Rebecca-Ensemble sowie an der Schule nicht verliert.
Rebecca ist übrigens so ein tolles Stück, habe gleich wieder das Bühnenbild etc. vor Augen.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 22.06.2014, 21:43:53

Danke für eure ausführlichen Rückmeldungen! Ich werde Anouk auf keinen Fall abheben lassen - sie gewinnt nur etwas mehr Selbstbewusstsein ;) Mit diesem Teil liefere ich endlich die Wendung, die viele von euch schon gewünscht haben... Viel Vergnügen :)

Der Besuch von Mrs. Paige verlief besser, als ich befürchtet hatte. Meine Nervosität kehrte plötzlich wieder zurück, als sie vor mir stand, aber Alice hatte dafür gesorgt, dass wir möglichst viele Szenen mit mir probten, und irgendwann konnte ich vergessen, dass meine Lehrerin da war. Sie besprach sich mit meinen Kollegen und mit Alice, und anschließend fällte sie ihr Urteil.
„Nun, Anouk, ich sehe, dass sie gut mitarbeiten und sich schnell eingliedern konnten!“, sagte sie. „Was sagen Sie selber – konnten Sie einen Fortschritt beobachten?“
„Ich fühle mich wohl hier“, antwortete ich. „Ich glaube, ich bin… selbstsicherer geworden. Und ich konnte eine Menge von den anderen lernen – ich bin sicherer in den Höhen.“
„Es freut mich, das zu hören.“
Wir plauderten noch eine Weile unbefangen über das Stück und die Rolle, ehe sie mir einen Packen Aufgabenblätter gab – alles Theorie. Ich sah darauf und stöhnte. Musikgeschichte.
„Studieren Sie es, es wird mit Sicherheit eine Wissensüberprüfung geben!“, lautete ihr Abschiedsgeschenk für mich. Wie nett! Ich quälte mich am Abend durch die ersten zehn Seiten und wurde von meinem Handy-Klingeln erlöst. Der Absender verblüffte mich so, dass ich eine ganze Weile nur auf den Namen starrte: Daniel.
Überraschung!, schrieb er. Werde Samstag und Sonntag in Berlin sein, habe dich schon zu lange nicht mehr gesehen! Vielleicht können wir uns sehen? Kuss, Daniel.
Meine Finger begannen, mechanisch auf die Tasten zu drücken, während mein Hirn schon einen Plan austüftelte.
Habe bis 21 Uhr Probe; Sonntag Morgen halb 10 in Starbucks am BB-Tor?
Er schrieb sofort zurück: Ja, freue mich!!
Ich schaltete mein Handy aus und ließ mich in mein Bett fallen. Und alles, was ich denken konnte, war: endlich können wir es beenden.

Es war eisig kalt, und ich kämpfte mich durch das Menschengetümmel, das selbst am Sonntag nicht stillstand. Das Brandenburger Tor ragte vor mir auf, aber heute hatte ich keinen Blick für seine Schönheit. Ich eilte über den Pariser Platz und erreichte erleichtert die mollige Wärme des Cafés. Es war ungewohnt leer; Daniel saß an einem Platz links am Fenster. Er stand auf, als ich zu ihm kam, und nahm mir meinen Mantel ab.
„Hi“, sagte er und gab mir einen Kuss. Ich erwiderte ihn verhalten und dachte im Stillen, das ich das vermissen würde.
„Wie geht es dir?“, fragte er, als wir saßen. „Du siehst toll aus!“
„Danke“, antwortete ich. „Die Proben laufen gut, allerdings ist es nicht mehr lang bis zur Premiere. Bald werde ich nicht mehr einfach sonntags frei haben.“
„Es war auch ein Wunder, dass ich herkommen konnte“, berichtete er. „Aber im Moment gibt es nicht so viele Aufgaben… Soll ich uns übrigens etwas holen? Ich geb’ dir was aus.“
Ich bestellte nur einen Milchkaffee. Mir war schlecht vor Anspannung, und ich fühlte mich schäbig. Während er fort war, versuchte ich mir einzureden, dass ich keine Schuldgefühle haben musste, aber es half nichts: ich wurde wieder nostalgisch. Gedanken wie: wir könnten es ja noch mal versuchen kamen mir in den Sinn.
Wir plauderten unbefangen über die Schule, Klatsch und Tratsch und berufliche Hoffnungen.
„Ich glaube, es läuft ganz gut bei mir“, sagte Daniel. „Anfangs hatte ich ziemliche Probleme mit dem Ballett… Na ja.“ Er rümpfte die Nase, und ich lachte.
„Ja, die habe ich immer noch!“, entgegnete ich und berichtete ihm von dem Desaster mit der Grease-Choreographie. Daniel seufzte.
„Ich hoffe, ich werde bald auch ein Engagement bekommen“, sagte er. „Es muss wahnsinnig toll sein, schon im zweiten Jahr so eine Chance zu bekommen!“
Das Gespräch nahm eine gefährliche Wendung. Ich griff nach meiner Jacke.
„Wie wär’s, wenn wir noch eine Runde über den Platz drehen?“, schlug ich vor, und er stimmte zu. Wir verließen das Café, und während wir langsam durch die fotografierenden Touristen schlenderten, legte er den Arm um mich.
„Ich habe dich vermisst“, sagte er. „Obwohl ich öfters über dich ausgefragt werde.“ Er kicherte. „Es ist schon seltsam, der Freund von einer echten Musicalsängerin zu sein!“
Ich blieb stehen.
„Darüber wollte ich mit dir reden“, begann ich und sah auf das Brandenburger Tor vor uns. „Ich habe das Gefühl, dass… Wir beide sind nicht mehr… Ich denke immer öfter, dass du…“ Ich brach ab – dieses Gestammel brachte mich nicht weiter. Daniel neben mir versteifte sich. Sein Arm lag immer noch um meine Mitte, aber es fühlte sich plötzlich… fremd an.
„Spuck’s schon aus“, sagte er leise. Er klang bitter.
„Daniel, seien wir ehrlich: du redest nur noch davon, dass du mit einer kleinen Berühmtheit zusammen bist, mit einer Theaterrolle. Nicht mehr… von Anouk.“
Er schwieg. Ich warf einen Blick auf ihn – er starrte verbissen auf die Siegessäule, die sich am Horizont erhob.
„Ich glaube nicht, dass unsere Beziehung das letzte Jahr überlebt hat“, flüsterte ich. „Wir haben uns verändert. Wir sehen uns nicht mehr, haben neue Freunde gefunden.“
„Hast du einen Neuen?“, fragte er.
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich will einfach nicht mehr… dieses Gefühl haben, nur wegen dem, was ich darstelle, mit dir zusammen zu sein. Verstehst du?“
Er nickte, langsam. Sein Arm löste sich bedächtig von mir, und es fühlte sich an wie ein endgültiger Abschied: zögerlich, wehmütig. Wir sahen uns an.
In diesem Moment hätten wir überall sein können. Ich vergaß alles um mich herum, die Menschen, den Lärm, warum ich hier war. Da waren nur er und ich, die Trauer und unsere gemeinsamen Erinnerungen. Für einige Sekunden schien es, als wolle er etwas sagen – sein Mund bewegte sich, er runzelte die Stirn. Aber dann senkte er resigniert den Blick und rammte die Hände in die Jackentaschen.
„Okay…“, sagte er. „Das kam… unerwartet.“
„Ist es für dich denn immer noch wie am Anfang?“, hakte ich nach.
„Ich wollte dir eine Freude bereiten“, erwiderte er. Also nein.
„Das hast du. Ich hab dich immer noch gern… als Freund.“ Ich wusste, das war ein verbotener Satz, aber er musste sein. Daniel sah mich an, irgendwie wehmütig.
„Ich schätze, das muss ich erst mal verdauen“, sagte er. Ich wünschte, ich könnte ihn umarmen oder irgendwie anders verabschieden. Aber er drehte sich einfach um und ging. Ich sah ihm nach – dem dunkel gekleideten, nur mittelgroßen Jungen mit den braunen Haaren. Er verschwand, verschmolz einfach mit der Menge, bis er nur noch irgendjemand und dann niemand mehr war, und in meinem Kopf sangen Elphaba und Fiyero ein trauriges Duett.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.06.2014, 22:47:51

Sehr schöner, aber auch sehr trauriger Teil. Ich hoffe, Anouk geht es damit besser. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Bald ist ja auch Premiere *freu*
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 23.06.2014, 12:27:14

Gaefa hat geschrieben:Sehr schöner, aber auch sehr trauriger Teil. Ich hoffe, Anouk geht es damit besser. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Bald ist ja auch Premiere *freu*

Genau das dachte ich auch. Schade um die Zwei,aber es schien ja auch wirklich aussichtslos zu sein...
Auf die Premiere bin ich ja auch mal sehr gespannt.
Bitte schreib schnell weiter! ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 23.06.2014, 14:41:27

Ja, bald ist es so weit... Die letzten Tage vor der Premiere, die für Anouk noch eine Überraschung bereit halten...

Ich würde gerne sagen, dass ich in den folgenden Tagen niedergeschmettert war, unkonzentriert bei den Proben und nachts in mein Kissen weinte, wie es sich gehörte, wenn man eine wundervolle erste Beziehung beendete. Denn trotz allen Differenzen, die unser Ende eingeleitet hatten, gab es doch Zeiten, die wir beide genossen hatten.
Aber ich war nicht traurig oder weinerlich. Ich blühte auch nicht auf vor lauter Erleichterung – ich war einfach ich selbst. Das zeigte mir, dass unsere Beziehung tatsächlich schon zu lange mehr Schein als Sein war – ich hatte mich schlicht an das Gefühl gewöhnt, Daniel nicht mehr zu lieben.
Inzwischen ging es mit großen Schritten auf die Premiere zu, und meine Tage füllten sich: der Besuch der Kostümschneiderin stand an – wir verbrachten mehrere Stunden damit, Kostüme anzuprobieren, abzustecken, umzuändern. Wer gerade nichts zu tun hatte, wurde zu den Proben geschickt, zu den Maskenbildnern oder der Choreographin. Es war bewundernswert, wie locker Alice mit dem Stress umging – je mehr es zu tun gab, desto entspannter wurde sie.
Wir verbrachten mehrere Stunden damit, Bühnenauf- und abgänge zu proben, arbeiteten intensiv an Mimik, Gestik und Körperlichkeiten und trimmten unsere Stimmen, bis jeder Ton perfekt saß. Gleichzeitig trotzdem wir mit reichlich Tee und Obst den kalten Wintertagen, die uns inzwischen reichlich Schnee beschert hatten.
Am achten Dezember war es so weit: unsere erste Durchlaufprobe stand an – reichlich spät, aber Alice blieb völlig unbeeindruckt von der Verzögerung, die sich keiner so recht erklären konnte. Ich fieberte dem Tag entgegen, endlich das ganze Stück ohne Unterbrechung und mit vollem Orchester proben zu dürfen, und ging am Abend vorher zeitig zu Bett. Und erwachte, als es gerade erst dämmerte, mit einem eigenartigen Gefühl. Erst war ich zu müde und auf eine seltsame Art benommen, als dass ich es richtig hätte zuordnen können. Doch nach und nach lüftete mein Körper alle Symptome einer Erkältung, wie sie im Lehrbuch steht: mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Wackersteinen gefüllt, meine Nase wechselte regelmäßig von absolut dicht zu regelrechten Dammbrüchen, und ein gefährliches Kratzen im Hals brachte mich endgültig auf die Beine. Ich warf einen Blick auf die Uhr – es war gerade fünf. Wir wollten uns um zehn Uhr im Theater treffen. Ich stand kurz vor einem Wutanfall, als ich in meiner Reiseapotheke nach Erkältungsmitteln suchte und keine fand. Es gelang mir, mich mit Taschentüchern einzudecken und noch einige Stunden in einem unangenehmen Halbschlaf zu verbringen, ehe ich um acht frühstücken ging, das erste Mal seit langer Zeit wieder im Hotel. Ich weiß nicht, wie viele Liter Tee ich mir aufzwang, aber nachdem ich in der Apotheke Halstabletten und Erkältungsmittel erstanden und geschluckt hatte, tat mir wenigstens der Hals nicht mehr weh. Aber meine Stimme hörte sich trotzdem abscheulich an – richtig verschnupft. Ich war trotzdem entschlossen, an der Durchlaufprobe teilzunehmen und sie auch zu Ende zu bringen!
Natürlich konnte ich niemandem meinen Zustand verheimlichen. Janine war die erste, die mir auf dem Flur vor den Garderoben begegnete.
„Du siehst nicht gut aus“, stellte sie fest.
„Ich weiß“, antwortete ich seufzend. „Aber besser, ich bin jetzt erkältet, als bei der Premiere.“
So ähnlich lautete auch Alice’ Urteil. Trotzdem war sie besorgt.
„Ich will nicht, dass die anderen auch werden krank!“, meinte sie und bedachte mich mit einem forschenden Blick. „Warst du beim Arzt?“
Ich schüttelte den Kopf. Alice schien nachzudenken, und mir wurde Angst und bange – was würde sie jetzt tun? Ich beobachtete, wie sie einen Blick in die Runde warf. Dann wandte sie sich mir zu.
„Es tut mir leid, Anouk“, sagte sie schließlich. „Aber ich kann nicht riskieren, dass sich jemand ansteckt. Hier…“ Sie riss ein Stück Papier von ihrem Notizblock und kritzelte etwas darauf, „das ist ein guter Arzt. Ich werde anrufen und dir einen schnellen Termin verschaffen, und dann siehst du zu, das du schnell wieder auf die Beine kommst!“
Ich hätte vor Wut am liebsten etwas kaputt geschmissen, aber ich ahnte, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Schweigend fügte ich mich in mein Schicksal und sah neidisch zu, wie mein Cover sich für die Probe bereit machte.
Ich bekam tatsächlich einen Termin beim Arzt, aber ich musste ganze zwei Stunden im Wartezimmer warten. Jeder Patient, der sich zu den Wartenden gesellte, fachte eine regelrechte Panik vor einer weiteren Ansteckung in mir an, und ich war froh, als der Arzt mir eine einfache Erkältung attestierte.
„Zwei Tage Bettruhe, viel trinken, regelmäßig inhalieren, dann werden Sie schon am Mittwoch wieder an den Proben teilnehmen können“, erklärte er.
Jeder Arzt hätte seine helle Freude an mir gehabt – in den kommenden zwei Tagen war ich der vermutlich folgsamste Patient Deutschlands: ich zwang mich, ruhig im Bett zu liegen, schlief viel und trank den ganzen Tag Tee. Lutschte Halsbonbons. Schonte meine Stimme.
Und war am Mittwoch tatsächlich wieder fit genug, um an den Proben teilzunehmen.
Wir gingen das Stück komplett durch, und es gab kaum Patzer. Dank des großartigen Bühnenbildes rutschte ich in die Geschichte hinein, ohne meine Fantasie groß anstrengen zu müssen.
„Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg!“, lautete Alice’ Urteil. „Es ist wichtig, dass ihr nicht lasst entstehen Routine während dem Spiel. Entdeckt euch und eure Rolle immer neu, um nicht monoton zu werden!“
Manchmal fiel es mir schwer, ihren Rat zu beherzigen. Es gab Proben, an denen nichts gelang und mir die ständigen Widerholungen auf die Nerven gingen. Aber Alice schaffte es, jeden von uns wieder aufzubauen, und schließlich war sie da: die Premierenwoche.

Die Premiere fiel auf einen Dienstag. Meine Mutter kam einen Tag vorher an; es war ein probenfreier Tag. Am Sonntag hatten wir Generalprobe gehabt. Wir verbrachten einen netten Tag zu zweit, ich zeigte ihr die schönsten Ecken von Berlin.
„Ich werde mein blaues Kleid anziehen“, sagte sie, als wir in einem Restaurant zu Abend aßen. „Ist das in Ordnung oder zu schlicht?“
„Das blaue Kleid passt super!“, versicherte ich ihr. Sie sah mich liebevoll und erstaunt zugleich an, wie schon den ganzen Tag. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Meine Große“, murmelte sie. „Ich weiß noch, wie du bei Wicked gespielt hast… Ich musste ein paar Tränchen verdrücken!“
„Mama!“
„Bestimmt werde ich morgen auch heulen“, fuhr sie fort. Ich stöhnte und sie lachte darüber.
„Wie aufgeregt bist du?“, wollte sie dann wissen. Ich schüttelte den Kopf.
„Dafür gibt es keine Worte!“, sagte ich dramatisch.
Aber es stimmte. Ich war aufgeregt. Ich dachte an die vielen Sitzplätze, und immer, wenn ich sie mir gefüllt vorstellte, beschlich mich eine beinahe lähmende Angst, vermischt mit dem Wunsch, endlich wieder auf der Bühne zu stehen.
Lampenfieber machte definitiv süchtig!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.06.2014, 14:44:15

PREMIERE!! Teil 1:

Ein Theater hat immer eine ganz besondere, ihm eigene Atmosphäre; in keinem Theater fühlt man sich gleich. Zumindest ergeht es mir so. Das Theater, in dem Rebecca spielte, strahlte immer eine hoheitliche Eleganz aus, gemischt mit der lockeren Modernität einiger Bars und kleinen Bildschirmen. Während der Proben war es mir immer zu leer und ein wenig geheimnisvoll vorgekommen, aber am Tag der Premiere erkannte ich es kaum wieder.
Am frühen Nachmittag kam ich an; es waren noch knapp fünf Stunden, bis der Vorhang sich das erste Mal öffnen würde. Den Morgen hatte ich am Denkmal verbracht; fast eine Stunde war ich zwischen den grauen Steinen umhergestreift und hatte tatsächlich ein wenig Ruhe in dieser stillen Trostlosigkeit gefunden. Nun aber saß mir das Herz wie ein Stein in der Brust – ein sehr lebhafter Stein. Fahnen wehten vom Dach des Gebäudes, und auf den riesigen Plakaten sah ich mich selbst wieder, zusammen mit Marius und Muriel. Als ich das Theater durch den Haupteingang betrat, lächelte mir eine Servicekraft im Vorbeigehen zu. Ein dicker roter Teppich war im Foyer ausgerollt, vor einer Art Leinwand, auf der jede Menge Schriftzüge diverser Sponsoren und natürliche des Musicals zu lesen waren. Hier würden gleich Kamerateams stehen und Besucher – auch regionale und nationale Stars – filmen und interviewen. Aber ich war nicht nervös wegen den Berühmtheiten; ich hatte keinen Bezug zu ihnen. Sie würden der Kamera auch erzählen, dass sie es großartig fanden, wenn sie von ihrer Managerin hierher gezwungen wurden, einfach um der Peinlichkeit zu entgehen, in den Medien als „Kulturbanause“ hingestellt zu werden.
Wer mich nervös machte, war meine Familie. Meine Freunde. Ich wusste, dass Mrs. Paige und Parker anwesend sein würden; Sarah hatte eine Karte von mir geschenkt bekommen und Liam durfte sie als Stufenbester begleiten (dabei gab es einige, die ich lieber gesehen hätte). Mein Vater würde am Wochenende kommen, und viele Verwandte und alte Freunde hatten ihren Besuch angekündigt.
Ich schlenderte zum Merchandise-Stand, um mich abzulenken, blätterte das Programmheft durch. Schlüsselanhänger, Kugelschreiber, Plakate… Ich stellte mir ein Jugendzimmer vor, in dem zwischen Shakira und Johnny Depp Marius, Muriel und ich an der Plakat-Wand hingen. In meiner Vorstellung sah es irgendwie absurd aus. Aber es war genau das, was ich vor zwei Jahren auch gemacht hatte. Man bekam auf vieles eine neue Sicht, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Ich ließ den Stand hinter mir, plauderte ein wenig mit dem Mitarbeiter, der alles an der Bar vorbereitete, und zwang mich dann, endlich die Garderoben aufzusuchen. Aber der kleine, gemütliche Raum beengte mich; ich versuchte, ein wenig aufzuräumen, aber ich hatte keine Ruhe. Also lief ich zurück ins Foyer und betrat den leeren Saal wie ein normaler Besucher. Leer und festlich erstreckten sich die Reihen vor mir. Vor der Bühne wurde der Boden ein letztes Mal abgesaugt. Ich schlenderte durch die leeren Ränge und prüfte genauestens, von welchem Sitzplatz aus man die beste Sicht hatte. Auf einem Sitz in der Loge blieb ich sitzen und starrte auf das Bühnenbild. Automatisch ging ich im Kopf meine Texte durch, Auf- und Abtritte, Kostümwechsel… Als ich bemerkte, dass meine Hände zitterten, schob ich sie unter meine Beine. War ich bei Wicked genauso aufgeregt gewesen? Ich war mir sicher, dass es heute noch schlimmer werden würde. Vor zwei Jahren wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich so bald als Ich auf der Bühne stehen würde, in Berlin! Überwältigt von dieser Erkenntnis, verfiel ich in eine altbekannte, überwunden geglaubte Unsicherheit. Tausende Horror-Szenarien tauchten in meiner Fantasie auf. Am ausgeprägtesten war die, in der ich in meinem weißen Kleid anmutig die Treppe hinunterschritt, plötzlich eine Stufe vergaß und höchst undamenhaft die Treppe hinunter segelte. Ich sah es so deutlich, dass ich mir sicher war, es würde wirklich passieren, und grübelte fieberhaft darüber nach, was ich dann tun würde. Mein erster Impuls wäre natürlich weglaufen – weinend die Bühne verlassen. Das Publikum würde Verständnis dafür haben. Aber dann würde ich mir die Premiere versauen! Es wäre am besten, einfach aufzustehen und weiterzuspielen. Oder ich könnte so tun, als habe ich von dem Sturz das Bewusstsein verloren – dann würde im Publikum Mitleid die Belustigung überwiegen. Hoffentlich tat ich mir nicht ernsthaft weh! Ich starrte auf die Bühne. Bis mir bewusst wurde, wie dumm mein Gedankengang war, verstrichen mehrere angespannte Minuten. Verärgert stand ich auf und verließ entschieden die Ränge, durchquerte den nun gänzlich leeren Saal und lief über die Bühne zu den Garderoben. Auf dem Gang vor dem schwarzen Brett traf ich Stefan, der Jack Favell spielte.
„Na sieh einer an, wer da ist“, sagte er und sah mich durch zusammengekniffene Augen an. „Die Herrin des Hauses.“ Er sprach ein wenig schleppend. Ich unterdrückte ein Grinsen; inzwischen verunsicherte es mich nicht mehr, dass einige Kollegen manchmal mitten im Gespräch in ihre Rolle verfielen. Ich warf einen Blick auf die Listen und atmete erleichtert auf – niemand war krank oder anderweitig verhindert.
Nach einigen Minuten stießen weitere Kollegen zu uns. Muriel zum Beispiel, die mich kritisch beäugte.
„So wirst du doch nicht zur Premierenfeier erscheinen?“, fragte sie. Ich sah an mir hinab – ich trug eine einfache Jeans und ein altes T-Shirt.
„Du wirst niemals eine Lady, das steht fest!“, sang Anja hinter mir leise vor sich hin.
„Natürlich nicht!“, ging ich auf Muriels Bemerkung ein (sie trug schon ein recht hübsches Kleid). „Ich hab’ meine Sachen in der Garderobe.“
„Lass mich sehen, was du anziehen wirst!“, bat Muriel, und bald verfielen wir in ein sehr intensives Gespräch über Mode, das lediglich einen Zweck hatte: Ablenkung! Denn inzwischen wurde es immer unruhiger.
Um halb sechs, eine halbe Stunde, bevor die Zuschauer ins Theater gelassen wurden, bekamen wir strikte Anweisungen von Alice.
„Am besten, ihr schaltet aus euer Mobilephone, okay? Konzentriert euch, wärmt euch auf und so weiter, und verlasst nicht mehr diesen Bereich. Ab sechs Uhr bitte die ersten in die Maske!“
Die Show würde um halb acht beginnen. In der Maske hatte ich noch einmal kurz Zeit, die Augen zu schließen und mich zu entspannen – mit mäßigem Erfolg. Auf dem Gang traf ich Marius, wie ich bereits im Kostüm. Wir machten ein paar Fotos (alberne, freundliche und ernste) mit dem Ensemble und einzelnen Kollegen, ehe Alice darauf aufmerksam wurde und uns erneut riet, auch das sein zu lassen.
Um sieben Uhr stieg meine Anspannung ins unermessliche. Ich war kurz davor, loszuheulen, und erst, als ich Marius von meiner seltsamen Vision erzählte, in der ich die Treppe hinunterstürzte, ging es mir etwas besser. Denn er lachte darüber, und gemeinsam erfanden wir eine absurde Unfall-Szenerie, die immer wahnwitziger wurde, je mehr Ensemblemitglieder darauf aufmerksam wurden und ihrerseits Vorschläge einbrachten.
Viertel nach sieben. Die Gespräche verstummten abrupt.
„Okay, Konzentration!“, flüsterte Alice. "Geht auf eure Positionen, werdet ruhig, fühlt euch in eure Rolle ein!“
Wir standen herum, liefen langsam auf und ab, strichen Kostüme glatt, wisperten Texte vor uns hin. Ich beobachtete, dass Marius die Hände in die Hosentaschen schob und auf den Fersen auf und ab wippte, wie er es auch in einigen Szenen immer tat. Muriel maß irgendwann jeden mit eisigen Blicken, und Stefan zupfte sich immer spitzbübisch an der Nasenspitze.
Und dann, so plötzlich, dass ich erschrocken zusammenfuhr, erklang draußen ein Gong und die Ansage, dass das Musical nun beginnen würde.
Wir bitten Sie, Ihre Telefone auszuschalten und Ton- sowie Bildaufnahmen zu unterlassen, und wünschen Ihnen gute Unterhaltung mit: Rebecca.
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Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 25.06.2014, 20:19:34

Jetzt muss ich mich auch mal äußern: Ich habe jetzt die Story nachgelesen und finde sie bisher trotz ein paar kleinerer sachlicher Ungereimtheiten super spannend geschrieben und freue mich auf weitere Fortsetzungen. Schön, dass du so regelmäßig postest, da macht das Mitlesen Spaß!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 27.06.2014, 11:44:47

Ou, schön, ein neuer Leser! :handgestures-thumbupright:
armandine hat geschrieben: trotz ein paar kleinerer sachlicher Ungereimtheiten

Welche zum Beispiel? Nu damit ich weiß, was ich verbessern muss...

Es war nicht die Zeit, um Angst zu haben. Es schien eine Ewigkeit und doch nur einen Sekundenbruchteil zu dauern, ehe ich auf der Bühne stand. Ich erinnerte mich an den Blick, den Marius mir zugeworfen hatte, und die stumme Botschaft: du schaffst das! Der Vorhang hob sich zeitgleich mit dem Einsetzen des Wellenrauschens.
Manderley, dachte ich. Konzentrier dich auf deine Geschichte, auf deine Rolle! Vergiss alle!
Zuerst war es schwer für mich. „Ich hab’ geträumt von Manderley“, begann ich zu singen. Ich bemerkte, dass meine Stimme ein wenig zitterte. Doch als das Ensemble hinter mir zu singen begann, fühlte ich mich nicht mehr so einsam. „Und der Mond scheint hell, und der Fliederduft ist so süß und sehnsuchtsschwer. Und wie damals liegt Unheil in der Luft, doch heut schreckt es mich nicht mehr!“ Ich spürte, wie die Worte einmal mehr mit meinen Gefühlen übereinstimmten, wie die Musik mich auszufüllen schien und die Töne glatter und sicherer über meine Lippen kamen. Und als die Kulisse wechselte – Frankreich im Jahr 1926, Eingangshalle des Hotels - war ich schon nicht mehr ich selbst.
Ich erlebte die Premiere sehr intensiv. Hatte ich geglaubt, bei Wicked meinen Körper mit Elphaba zu teilen, so verschmolz ich nun regelrecht mit meiner Rolle. Als ich das erste Mal hinter der Bühne verschwand, fand ich mich in einem Anflug von Verwirrung in der Realität wieder. Niemand sagte etwas. Stefan nickte mir kurz zu, und ich lauschte auf die Stimmen und die Musik und konnte es gar nicht abwarten, erneut die Bühne zu betreten.
Meine Angst kehrte so plötzlich zurück, dass mir übel wurde – in dem Moment, als ich auf der Treppe stand und mein Name angekündigt wurde – Mrs. De Winter! Für einen kurzen Moment blitzte meine eigenartige Vision wieder auf, dass ich die Treppe hinterstürzen könnte. Aber ich bewältigte die Stufen mit einem leisen Lächeln, klammerte mich am Geländer fest und hoffte, dass niemand sehen konnte, wie ängstlich ich in Wirklichkeit war. Erst, als Maxim sein Glas fallen ließ und mich anherrschte, fand ich wieder in die Szene zurück.
Ich flüchtete von der Bühne, und Mrs. Danvers’ Triumphgesang hallte ein wenig dumpf hinter mir her. Auf eine zufriedenstellende Art erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Der aufbrandende Applaus zerrte meine Mundwinkel in die Höhe. Nach und nach strömten die Darsteller hinter die Bühne. Marius stieß mich an, und ich schaute zu ihm hoch.
„Wir hätten uns nicht ausdenken sollen, was alles schief gehen könnte!“, sagte er. „Als du auf der Treppe standest, musste ich daran denken und beinahe lachen!“
„Echt? Ich bin fast eingegangen vor Angst“, gestand ich, was mir einen weiteren sanften Stoß einbrachte, diesmal von Janine.
„Alles ist gutgegangen!“, beruhigte sie mich. „Mach dir am besten keine weiteren Gedanken über den ersten Akt – konzentrier dich direkt auf den zweiten!“
Muriel gesellte sich zu uns, aber es kam kein echtes Gespräch mehr zustande – einerseits, weil ich Janines Rat beherzigte, andererseits weil Muriel immer noch sehr streng und unnahbar aussah.
Natürlich kehrte das Lampenfieber vor dem zweiten Akt zurück. Aber die erste Szene half mir, mich abzureagieren: Und das und das und das beinhaltete ein breit gefächertes Repertoire an Emotionen – Angst, Mutlosigkeit, Verzweiflung, Resignation, irgendwie aber auch Entschlossenheit… Und Muriels Auftritt half mir erneut, gänzlich in der Situation zu versinken.
Erneut aufgeregt wurde ich, als Kein Lächeln war je so kalt endete. Aber ich ließ nicht zu, dass meine Nervosität die Szene versaute. Marius, der eine unbeschreibliche Leistung abgeliefert und einen frenetischen Applaus erhalten hatte, legte die Hände an meine Wangen.
„Sieht mich an. Das Kind in deinen Augen ist verschwunden.“
„Ja“, antwortete ich fest. „Ich werde nie wieder ein Kind sein.“
Er ließ mich los, ein geschlagener Mann. „Kannst du mir ins Gesicht sehen und sagen, dass du mich noch liebst?“
Ich sah ihn an. „Aber ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr!“
Wir fielen uns in die Arme und küssten uns, und vereinzelt im Saal wurde geklatscht oder geraunt.
Der Rest des Stücks verlief ohne Schwierigkeiten oder Patzer. Beim Epilog fühlte ich mich leicht, beschwingt und ein wenig traurig – die Premiere war in wenigen Augenblicken vorüber. Der Vorhang fiel, Applaus brandete auf. Für einige Sekunden vergaß ich, was wir für den Schlussapplaus ausgemacht hatten, aber einige Ensemblemitglieder scheuchten mich regelrecht von der Bühne, während sie in ihre Aufstellung gingen. Ich reihte mich in die Reihe ziemlich weit hinten ein – vor Marius und hinter Muriel – und lauschte auf die Pfiffe und Rufe und das Klatschen. Trotz meiner Freude konnte ich gar nicht richtig lächeln, als ich endlich auf die Bühne lief und mich verbeugte. Alles war plötzlich so unwirklich und überfordernd, und ich war in Gedanken schon wieder bei meiner Familie und meinen Freunden. Es dauerte eine Weile, bis wirklich alle Beteiligten auf der Bühne standen. Ein paar Worte wurden gesagt, ein Dankeschön an diverse Sponsoren, die obligatorischen Blumensträuße überreicht – dann konnten wir uns endlich hinter die Bühne verziehen. Erst jetzt fielen wir uns in die Arme und tauschten uns aus.
„Und, wie fühlst du dich?“, fragte Muriel.
„Komisch“, gab ich zu, und sie lachte. „Und müde“, fügte ich hinzu.
„Tja, die Premierenfeier kannst du nicht sausen lassen“, meinte sie. Das hatte ich auch gar nicht vor. Alice scharte uns um sich, ehe wir in die Garderoben gehen konnten.
„Das war eine gelungene Premiere!“, sagte sie und wirkte sehr zufrieden. „Jetzt wir haben Premierenfeier; lasst euch nicht zu viel Zeit, aber erholt euch wenigstens etwas. Muriel, Anouk, Marius: ihr geht als letztes auf die Feier. Es müssen ein paar Fotos gemacht werden für die Presse, right? Aber das wird nicht so lange dauern. Also, sehr gut gemacht!“
Wir applaudierten kurz, dann zogen wir uns zurück. In der Garderobe ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und starrte in den Spiegel. Mein Ebenbild grinste mir zu, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Habe ich das wirklich getan?, dachte ich. Ist das real? Es fühlte sich so an. Langsam und sehr vorsichtig schlüpfte ich aus meinem Kostüm und in mein Kleid, das ich extra für die Premierenfeier gekauft hatte. Ich kämmte einige Male über meine Haare, die sich unter der Perücke in eigenartige Wellen gelegt hatten, und brachte mein Kostüm zurück. Saskia, die in der Maske arbeitete, päppelte meine Frisur mit etwas Haarspray und gekonnten Griffen wieder auf.
Als ich den Garderobengang verließ, warteten Marius und Muriel bereits auf mich.
„Fertig?“
Ich nickte. Gemeinsam gingen wir nach oben und betraten das Foyer.
„Keine Bange“, sagte Marius, als ich die vielen Fotografen sah. „Lächle einfach ein bisschen, beantworte ein paar Fragen, das war’s.“
Leichter gesagt, als getan. Die Fotorunde war schnell vorbei, und einige Zeitungen wollten tatsächlich ein paar Worte von uns hören. Meistens fragten sie das gleiche – wie ich mich fühlte, ob ich stolz war, ob meine Mitschüler neidisch waren. Ich beantwortete die Fragen mit den besten Absichten, und nach etwa dreißig Minuten betraten wir die obere Etage des Gebäudes. Überall waren kleine Tische aufgestellt, um die sich Gäste und Darsteller gruppierten, plauderten und etwas tranken. Ich sah mich um und suchte mit den Augen die Menge ab, als mir jemand um den Hals fiel.
„Verdammt noch mal, das war unglaublich!“, schrie Sarah mir ins Ohr. „Ich meine – hast du dich mal spielen gesehen? Wahnsinn!
Ich grinste Mrs. Paige und Liam, die hinter ihr standen, verlegen an.
„Herzlichen Glückwunsch, Anouk“, sagte Mrs. Paige.
„Danke“, antwortete ich. Liam schlug mir gönnerhaft auf die Schulter.
„Tatsächlich, ich muss sagen… Gut gemacht“, bestätigte er gespielt großspurig. „Und dieser… Marius – ich muss mich geschlagen geben: bei unserem Duett habe ich nicht so gut gesungen. Aus dem könnte was werden.“
„Haha“, sagte ich, aber ich war schon wieder abgelenkt: meine Mutter, einige Verwandte und zu meinem Erstaunen auch Daniel standen einige Meter entfernt und warteten. Ich ging zu ihnen, ließ mich drücken und beglückwünschen und versicherte ihnen mehrere Male, dass ich mich großartig fühlte. Schließlich stand ich Daniel gegenüber, und wir waren erschreckend unsicher. Als ob wir uns nie wirklich gekannt hätten.
„Hi“, sagte ich.
„Hallo“, erwiderte er. „Also… das war… gut.“ Er grinste schief. „Ich meine, es war natürlich großartig.“ Er griff nach meiner Hand. „Ich schwänze zwei Tage Schule, um hier sein zu können.“
„Du hättest doch am Wochenende kommen können“, tadelte ich ihn leise. Aber insgeheim war ich froh, dass er mir nicht aus dem Weg ging. Der Gedanke, dass ich mich ursprünglich heute hatte von ihm trennen wollen, war… furchtbar!
Wir verbrachten noch einen netten Abend, und je später es wurde, desto weniger Gäste waren anwesend. Als die ersten Darsteller sich verabschiedeten, machte auch ich mich auf den Weg, zusammen mit meiner Mutter und Daniel – sie bewohnten das gleiche Hotel wie ich. Es dauerte eine Weile, ehe ich mich von meinen Freunden und Verwandten lösen konnte, denn jeder hatte noch ein paar liebe Worte für mich übrig – stolz und wundervoll kamen am meisten darin vor. Ich war furchtbar erschöpft von all der Aufregung und dem Glück, und schon wieder ein wenig nervös – denn morgen würde eine weitere Vorstellung sein.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 27.06.2014, 12:05:25

@Ophelia: Zum Beispiel wird in der Regel erst einmal auf einer Probebühne probiert, weil die Hauptbühne meistens von der Technik belegt ist. Und wenn es nicht gerade eine Uraufführung ist, wird selten mehr als 6-maximal 8 Wochen probiert. Und Auditions für die Hauptrolle nehmen in der Regel (jedenfalls bei der Stage) mehr Runden als nur 2 in Anspruch (bei Les Mis damals in Berlin gabe es 7 Callbacks). Aber das tut der Sache keinen Abbruch!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 01.07.2014, 17:05:25

armandine hat geschrieben:@Ophelia: Zum Beispiel wird in der Regel erst einmal auf einer Probebühne probiert, weil die Hauptbühne meistens von der Technik belegt ist. Und wenn es nicht gerade eine Uraufführung ist, wird selten mehr als 6-maximal 8 Wochen probiert. Und Auditions für die Hauptrolle nehmen in der Regel (jedenfalls bei der Stage) mehr Runden als nur 2 in Anspruch (bei Les Mis damals in Berlin gabe es 7 Callbacks). Aber das tut der Sache keinen Abbruch!

Ah. Das wusste ich nicht, aber danke für die Info :) Habe leider gerade eine riesengroße Schreibblockade, daher ist etwas Geduld angesagt... :roll:
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 01.07.2014, 17:45:50

Oh, das ist aber schade. Dabei würde es mich total interessieren, wie es nicht nur bei Rebecca, sondern auch an der Schule weitergeht für Anouk. Da hatte man doch das Gefühl, dass der eine oder andere ihrer Mitstudenten durchaus an ihr interessiert war - jetzt wäre sie doch zu haben!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 02.07.2014, 14:13:18

armandine hat geschrieben:Oh, das ist aber schade. Dabei würde es mich total interessieren, wie es nicht nur bei Rebecca, sondern auch an der Schule weitergeht für Anouk. Da hatte man doch das Gefühl, dass der eine oder andere ihrer Mitstudenten durchaus an ihr interessiert war - jetzt wäre sie doch zu haben!

Für die Schule hab ich auch schon neue Pläne - nicht immer positive, um mal ein bisschen Spannung aufzubauen ;)
So, jetzt habe ich mich echt durchgekämpft. Ich hätte gern die Rebecca-Zeit noch etwas detaillierter beschrieben, aber wie gesagt, ich habe eine etwas unkreative Phase. Daher kommt jetzt schon die Derniere:

In der folgenden Woche verging fast keine Vorstellung, in der nicht irgendein bekanntes oder verwandtes Gesicht auftauchte. Schon am nächsten Abend überraschte mich Bertelin, mit einem gönnerhaften Blick, vor meiner Garderobe – offensichtlich kannte er ein paar Bühnenarbeiter, die ihm etwas schuldig waren. Aus meiner Klasse schafften es immerhin Jamie, Michael und – was mich überraschte – Aubrey, die allerdings nicht bleiben konnten, da sie noch am selben Abend nach Hannover fahren mussten. Dass sie da waren, erfuhr ich durch eine ziemlich kurze und offenbar hektisch getippte sms: Warn heut da, 1a! Müssen Zug kriegen, daher schon beim Applaus weg. Werden anrufen. Jamie, Michael, Aubrey.
Auf einen Anruf wartete ich allerdings ziemlich lange vergeblich. Dafür war mein Vater da, dem ich eine kleine Bühnenführung gab. Er war reichlich beeindruckt von meinem Arbeitsplatz.
Während der zweieinhalb Monate, die ich spielte (und die viel zu schnell umgingen) tauchten immer wieder sporadisch Verwandte und Bekannte auf. In den letzten Wochen wurde es allerdings mehr als anstrengend, da ich immer öfter zur Schule musste, um irgendetwas wichtiges mitzumachen und kurze Leistungsüberprüfungen zu absolvieren. Es kam nicht selten vor, dass ich vor der Aufführung noch schriftliche Aufgaben erledigen musste, um sie so schnell wie möglich abzugeben. Mein Cover musste immer öfter zum Einsatz kommen. Ich war traurig darüber, aber auch froh, denn ich wusste, dass ich manchmal nur unkonzentriert sein würde, würde ich spielen. Trotz des Stresses und der ständigen Hektik sah ich meiner Derniere mit Angst und Schrecken entgegen: ich konnte in der Nacht vorher kaum schlafen. Immer wieder schreckte ich auf und mein Blick fiel auf meinen gepackten Koffer. Als ich es nicht mehr aushielt, schaltete ich mein Handy ein und las abermals – und zum letzten Mal während meiner Spielzeit – die Kommentare der Musicalseite unter dem Artikel Rebecca: Hauptdarstellerin beendet kurze Spielzeit:
Glinda meinte: Wie schade, dass sie jetzt schon geht. Ich habe sie gesehen und war sehr überzeugt. Wicked91 hatte Verständnis dafür, dass es so schnell vorbei ist, schließlich muss sie ja zur Schule. ChristinePhan hoffte, dass ihr Cover ihre Nachfolgerin wird, die hat mir noch besser gefallen. Und Mrs.Lovett war begeistert darüber, dass sie bei der Derniere dabei sein würde: Ich werde auf jeden Fall berichten! Ich freue mich so!
Ja, ich freute mich auch. Aber ich war auch unendlich niedergeschlagen.

„Ja ja, das Kreuz der Schauspieler“, seufzte Muriel, als sie mich sah, und gab mir eine dicke, freundschaftliche Umarmung. „Du wirst dich daran gewöhnen.“
„Und bestimmt sieht man sich mal wieder“, fügte Anja hinzu und reichte mir ein Taschentuch.
„Wir werden deine Laufbahn immer im Blick haben!“, versprach Stefan.
„Ich werde sehen, dass wir noch mal gemeinsam auftreten!“, sagte Marius. Ich putzte mir verlegen die Nase – so viele liebe Worte! Ich hoffte, sie waren ehrlich und wahr.
„Was schwebt dir denn so vor?“, fragte Janine, um mich abzulenken. „An Rollen?“
„Hm.“ Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte ich sagen: „Mir egal, ich will nur hier bleiben“, aber die anderen meinten es so gut, dass ich sie nicht mit meinem Trotz abschrecken wollte. Also dachte ich ernsthaft nach, auch wenn ich schon einige Antworten hatte.
„Mal abgesehen von den typischen großen Rollen“, antwortete ich, „wie Christine oder Glinda oder Elisabeth… Würde ich gern mal in A Chorus Line mitspielen. Oder Lucy in Jekyll&Hyde.“ Ich überlegte kurz, dann fügte ich hinzu: „Aber meine Traumrolle ist Sarah, aus Tanz der Vampire.
„Alles tolle Vorschläge“, stimmte Muriel zu. „Aber Sarah überrascht mich.“
„Wieso?“, fragte ich.
„Ich bin mir nicht sicher, aber es wäre sicherlich ein wenig verschenktes Potential. Sarah ist nicht die größte Rolle.“
„Na ja, weniger ist mehr“, scherzte ich und verschwieg ihnen wohlweislich, dass ich mich sogar mit einer Ensemblerolle zufrieden geben würde. Hauptsache Tanz der Vampire!
Als ich wenig später wieder relativ gefasst in der Maske saß, kam Alice herein, eine Schachtel im Arm. „Anouk“, meinte sie lächelnd, „ein paar Fans haben ein Geschenk abgegeben.“
Ich nahm die Schachtel – ein in buntes Papier eingeschlagener Schuhkarton – erstaunt entgegen. Er war gefüllt mit Briefen (es waren zwölf Stück – offenbar hatten sich ein paar Fan zusammengetan), in denen lauter liebe Worte standen, kleinen Fotoalben von mir als Ich und einer Dose Tee: Gegen Heiserkeit stand darauf. Ich lächelte.
„Sind sie heute hier?“, fragte ich. Alice zuckte mit den Schultern. „Das ist zu vermuten.“ Sie klopfte mir auf die Schulter. „Hab Spaß heute Abend“, sagte sie, ganz entgegen ihrer sonstigen Ermahnungen. „Es wird bestimmt lustig.“
Bei diesen Worten wurde es misstrauisch, und mir kam der Gedanke, dass vielleicht einige Kollegen irgendetwas in der Show vorbereitet hatten. Ich wurde nervös und hoffte, dass ich nicht weinen musste oder zu abgelenkt war.
Als die Show begann, war ich sehr zittrig, aber ich brachte den Prolog doch sehr gefasst hinter mich. Ich sah, wie Anja auf die Bühne rannte.
„Sie kennen doch meine Gesellschafterin. Haben Sie sie gesehen?“, keifte sie.
„Nein, bedaure, Madam“, erwiderte der Kellner. Ich eilte auf die Bühne.
„Da bist du ja endlich!“, rief sie. Ihrem „Wo um Himmels Willen warst du so lang?“, fügte sie hinzu: „Heute musst du noch einmal für mich arbeiten!“
„Ich musste die Modezeitschrift noch holen!“, erwiderte ich etwas atemlos, ein Grinsen unterdrückend. „Und meine Koffer packen!“, ergänzte ich kurz entschlossen.
„Warum denn das?“
Mist! „Sie wollten sie lesen, Mrs. Van Hopper. Und ich reise morgen ab!“, improvisierte ich. Später, nachdem Maxim uns nach einem Gespräch sitzen ließ, meinte sie: „Sehr abrupt, dieser Abgang. Ich fürchte, mein Kind, du hast ihn mal wieder vertrieben!“
Und am Ende der Szene sagte sie: „Und jetzt komm! Mir geht es miserabel! Abschiede machen mich immer so traurig! Ich bleibe morgen im Bett.“
Abgesehen davon, dass wir alle und besonders ich unser Bestes gaben, geschah nicht mehr viel. Als ich mit Ben die Szene Sie’s fort spielte und seine Muschelsammlung lobte, drückte er mir ein paar in die Hand. „Schenk ich dir!“, sagte er treu, „als Erinnerung! – Aber Ben nit ins Heim!“
Es machte mir Freude, dieses Umdichten. In der Pause musste ich mich jedoch immer wieder ermahnen, nicht in Tränen auszubrechen. Eben hatte ich noch sagen können: Es ist ja erst der erste Akt, aber nun würde der zweite kommen und gehen, zu schnell…
Alles verlief glatt, besonders Mrs. De Winter bin ich machte mich sehr stolz. Doch nach Kein Lächeln war je so kalt zog Marius mich noch einmal zu sich und drückte mir einen zweiten Kuss auf. Das Publikum brach in Jubelrufe und Applaus aus, und ich musste beinahe loslachen. „Du Idiot!“, flüsterte ich, das Mikrofon völlig vergessend.
Trotz diesem lustigen Zwischenfall und meiner bis dahin recht stabilen Disziplin konnte ich beim Epilog nicht mehr an mich halten – schließlich würde ich Manderley ab jetzt wirklich nur noch im Traum sehen. Es war mir furchtbar peinlich, vor einem so großen Publikum zu weinen – bei Wicked hatte man sich mit Unerfahrenheit rausreden können. Ich kämpfte mich durch dieses wunderschöne Lied und erntete trotzdem einen tollen Applaus. Drei Mal wurde ich auf die Bühne gerufen, und Marius hielt eine kurze Ansprache: „Anouk hat heute ihre Derniere – ab Montag heißt es wieder: Schulbank drücken! Wir wünschen dir viel Erfolg und können nur immer wieder sagen, dass du Tolles geleistet hast und stolz sein kannst!“ Dann überreichten mir alle noch einen Blumenstrauß, hinter dem ich fast gänzlich verschwand, ehe der Vorhang tatsächlich zum letzten Mal fiel.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 03.07.2014, 21:18:04

Anouk ist wieder zurück in der Schule:

Es war seltsam, wieder in der Schule zu sein, auch wenn mir meine Freunde einen tollen Empfang bereiteten. Es war nicht der Umstand, dass ich so viel nachzuholen hatte; eher das Gefühl, das Heimweh sehr nahe kam. Dabei wusste ich inzwischen gar nicht mehr, wo ich zu Hause war: an jedem Ort, den ich besuchte, schien ich ein Stück von mir zurück zu lassen.
Parker fing mich am Montag nach zwei Stunden Schauspiel ab.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Fremd?“, antwortete ich. Er lächelte.
„Das wird sich geben. Sie werden so viel zu tun haben, dass Sie bald gar keine Zeit mehr haben, um Altem nachzutrauern.“
Da hatte er Recht: in Stepptanz zum Beispiel lag ich heillos zurück. Meine Musiktheorieaufgaben waren mehr schlecht als recht gemacht, und ich bekam von meinen Lehrern schlechte, aber nachsichtige Kritik.
Aber auch bei meinen Mitschülern war die Zeit nicht stehen geblieben. Schon am ersten Mittwoch nach meiner Ankunft wurde ich in puncto Tratsch auf den neuesten Stand gebracht.
„Also, irgendetwas stimmt doch hier nicht“, sagte ich, als wir eine unserer seltenen freien Stunden hatten, zu Sarah. „Marvin und Mark kleben aneinander wie siamesische Zwillinge. Wie sehr traurige siamesische Zwillinge.“
Sarah nickte und beugte sich vor. „Marvin wird es nicht schaffen“, raunte sie mir zu. Ich sah sie mit großen Augen an. „Was – das Schuljahr?“
Sie nickte. „Er war eine Zeit lang nicht hier, und alle dachten, er sei krank. Dann stellte sich heraus, dass er geschwänzt hat, um seinem neuen Hobby nachzugehen: er malt.“
„Er malt?“, wiederholte ich fassungslos.
„Aber nicht irgendwie.“ Sarah grinste. „Ich habe ein Bild gesehen – der Hammer! Seine Porträts von uns und die Karikaturen von den Lehrern sind unbeschreiblich gut gelungen! Na ja, jedenfalls ist den Lehrern natürlich nicht entgangen, wie schlecht er geworden ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „So weit ich weiß, will er versuchen, sich in der Kunst-Abteilung zu bewerben.“
Die Kunst-Abteilung – der zweite Teil der Music&Art Academy. Das Gebäude stand gegenüber von unserer Schule auf dem gleichen Gelände.
„Mark ist total fertig deswegen“, fuhr Sarah fort. „Er benimmt sich irgendwie komisch – kapselt sich total ab.“
„Hm.“ Nachdenklich schaute ich zu den beiden hinüber. Sie saßen einige Tische entfernt und steckten die Köpfe zusammen.
„Anita hat zum ersten Mal Post von ihren Eltern bekommen“, erzählte Sarah weiter. „Vielleicht kommen sie sie in den Ferien besuchen. Vielleicht haben sie begriffen, dass nichts und niemand Anita vom singen abbringen kann.“
Ich nickte. „Noch etwas?“
„Jamie hat mir eben geschrieben. Er ist für die ganze restliche Woche krankgeschrieben.“
Ich hatte Jamie noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Er schien sich schon länger schlapp und unwohl zu fühlen.
„Bestimmt eine Grippe“, sagte ich. „Hast du nicht erzählt, Aubrey war letztens mit Fieber in der Schule?“
„Ja, um die 42nd Street-Performance abzuliefern. Bestimmt hat sie ihn angesteckt.“
Wir redeten noch eine Weile über dies und das, Dinge, die ich verpasst hatte, ehe es gongte und wir in den Unterricht gingen.

Marvin verließ tatsächlich die Schule, und er war natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Ich war im Rahmen eines neuen Projektes mit ihm eingeteilt, ein Duett zu singen, und kam so über überraschend lockere Gespräche an Informationen.
„Ich habe schon länger das Gefühl, nicht richtig zu sein“, sagte er achselzuckend, als wir eine Pause machten und ich es wagte, ihn auf den Wechsel anzusprechen. „Mein Vater hat auch gern gemalt. Ich schätze, ich hab was geerbt von seinem Talent.“ Er lächelte schief. „Ich habe mich in der Arts-Abteilung für das nächste Schuljahr beworben, nachdem alle Lehrer so auf mir rumgehackt haben.“
Ich schüttelte den Kopf. „Warum hast du denn nicht früher etwas gesagt?“
„Ich weiß nicht. Ich hatte irgendwie… Angst, als undankbar abgestempelt zu werden. Ich meine, wer bekommt die Chance, an einer Musicalschule aufgenommen zu werden?“
„Wenige“, gab ich zu.
„Und wie viele verlassen sie, nicht weil sie zu schlecht sind, sondern keinen Bock mehr haben?“
„Keine Ahnung.“
„Seeeehr wenige.“ Er zog das Wort in die Länge und sah mich an. „Also, ich bin jedenfalls froh, dass es jetzt alle wissen.“
„Und dass dich keiner verurteilt“, fügte ich hinzu.
„Stimmt das denn?“
„Aber klar! Wenn du nicht willst, dann willst du nicht. Punkt. Aber trotzdem sollten wir weitermachen.“ Ich stand auf. „Ich habe nämlich vor, noch länger hier zu bleiben. – Kannst du mir sagen, wie ich an dieser Stelle auf dich eingehen soll?“ Wir sollten Who wants to live forever aus We will rock you singen, und ich fühlte mich noch ziemlich unsicher. Mein erster Gedanke, als ich die Noten bekommen hatte, war: das wird sich schrecklich anhören, aber Mrs. Paige meinte, es würde mit Marvins sanfter Stimme ein sehr gefühlvolles Duett abgeben – vorausgesetzt, wir gaben unser bestes. Wie immer sparte sie nicht an Ermahnungen.
Am Samstagabend rief Jamie bei mir an. Ich hatte den Tag weitgehend mit Lernen verbracht und meine Mitbewohner mit klappernden Steppschritten in den Wahnsinn getrieben. Aber wenigstens begann mein Gehirn, neue Windungen für Choreographien aufzubauen.
„Ich habe einen grippalen Infekt“, informierte Jamie mich mit matter Stimme.
„Das ist nicht gut“, stellte ich fest. „Bleib schön zu Hause und ruh dich aus, ja?“
„Ja, Frau Doktor.“
„Ich meine es ernst. – Wann darfst du wieder in die Schule?“
„Weiß ich nicht“, antwortete er ausweichend. „Der Arzt will mich Montag noch mal sehen.“
„Brauchst du irgendwas?“
„Bloß nicht!“, wehrte er hastig ab. „Ich kann schon noch für mich selbst sorgen. Was macht der Unterricht?“
Ich erzählte ihm, dass ich wieder Fortschritte machte, und wir plauderten noch eine Weile über die Schule, ehe sein Guthaben ihn zwang, aufzulegen. Ich starrte auf mein Notenheft und beschloss dann, noch einmal meinen Duettteil zu üben. Mein „Heimweh“ war so gut wie überwunden und hatte neuem Ehrgeiz Platz gemacht.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 03.07.2014, 22:31:06

Na, für eine Schreibblockade ist das doch eine ganze Menge. Schade, dass Rebecca schon wieder vorbei ist, aber wenn es noch länger läuft, schafft sie es vielleicht wieder zurück? Ich hoffe, Jamie fehlt nichts Ernstes, der war ja bis jetz sehr nett. Und schön, dass Anouk sich auch in der Schule wieder gut einfügen kann!

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 04.07.2014, 16:30:47

So, meine Muse ist anscheinend wieder aus dem Urlaub zurück. Weiter geht's:

Jamie kam tatsächlich erst nach einer weiteren Schulwoche zurück. Inzwischen war eine regelrechte Grippe-Epidemie ausgebrochen – kaum kehrte ein Schüler gesundet zurück, musste der nächste das Bett hüten. Diesmal traf es ausgerechnet Anita. Sie und Liam waren eingeteilt, Wehrlos aus Die Päpstin zu singen. Da Liam in der vergangenen Woche an einer Audition teilgenommen hatte (übrigens vergeblich), hatte er den Song noch gar nicht und Anita ihn nur mit Ersatzpartnern singen können. In unserer nächsten Gesangsstunde kam Mrs. Paige darauf zu sprechen.
„Anouk, ich freue mich wirklich, was für einen Fortschritt Sie gemacht haben!“, sagte sie. „Zwar haben Sie in Stepptanz und Ballett etwas nachgelassen, aber ihre Stimme hat sich sehr gut weitergebildet. Übrigens sagt Mr. Parker dasselbe über ihr Schauspiel.“
„Danke, Mrs. Paige“, sagte ich verlegen ob dieses konkreten, ehrlichen Lobes. Sie nickte nur knapp.
„Ich habe mich entschlossen, mich mit Ihnen an Lloyd Webber zu wagen“, sagte sie dann. „Wir beginnen mit Angel of Music aus dem Phantom, ich gebe Ihnen morgen die nötigen Noten zur Vorbereitung.“
Ich kam gar nicht mehr aus dem Grinsen heraus. „Das ist toll, Mrs. Paige!“, sagte ich aufrichtig. Aber mit ihren nächsten Worten erstarb meine gute Laune.
„Da ist noch etwas, um das ich sie bitten möchte“, sagte sie. „Ich weiß, dass Sie sich bei Ihrem Duett mit Marvin noch etwas unsicher fühlen, aber Sie sind momentan trotzdem eine der sichersten, was den Gesang angeht. Liam konnte sein Duett noch gar nicht proben – springen Sie für Anita ein!“
Ich ließ die Schultern hängen. „Wann?“, fragte ich.
„Ich werde sehen, ob ich einige Stunden zusammen legen kann“, versprach sie. Ich nickte verbissen und redete mir ein, dass es ja nur für kurze Zeit sein sollte.
Es war nicht so, dass ich Liam nicht mochte. Im Gegenteil. Fakt war, dass ich eifersüchtig war, als er mit Isabelle zusammenkam, und erleichtert, als sie sich trennten. Seine Anwesenheit machte mich unsicher, und ich hatte manchmal das Gefühl, nicht unbefangen mit ihm reden zu können. Du musst endlich aufhören, dir wegen allem Sorgen zu machen!, dachte ich. Du hast es doch gehört: du bist eine gute Sängerin! Wenn du dich mit Liam nur auf deine Aufgabe konzentrierst… Trotzdem war ich nervös, als ich um fünf Uhr den Übungsraum betrat. Dieser gingen drei quälende Stunden Schauspiel voraus. Wir hatten reichlich anstrengende Übungen gemacht, und ich war gereizt und hatte eigentlich wenig Lust, mit Liam zu üben. Wenigstens kannst du stolz auf dich sein, dachte ich. Mrs. Paige hat Vertrauen in dein Können!
„Danke, dass du mit mir üben willst“, sagte Liam, nachdem wir uns begrüßt hatten. Ich bemerkte, dass er wie ich etwas übellaunig schien. „Ich bin wegen der dummen Audition sowieso schon im Stress.“
Ich bekam etwas Mitleid mit ihm. „Ach, mach dir nichts draus“, sagte ich tröstend. „Du bekommst bestimmt bald eine neue Möglichkeit!“
„Du hast leicht reden“, murmelte er. Ich seufzte.
„Wann hört ihr endlich auf, wegen dieser Rebecca-Sache so… niedergeschlagen zu sein?“, sagte ich verärgert. „Ich hatte halt Glück. Ihr werdet auch eure Chancen bekommen, ganz bestimmt!“
Er sah mich belustigt an und hob abwehrend die Hände. „Schon okay“, meinte er versöhnlich, „lass uns anfangen.“
Es machte trotz meinen komischen Gefühlen Spaß, mit Liam zu proben. Denn wir mussten uns den Song beide erst einmal erarbeiten, und wir konnten uns gegenseitig helfen, ohne den andere bloßzustellen. Wir schienen auf einer Ebene zu sein; inzwischen hatte ich meine Probleme mit den Noten gänzlich überwunden.
„Das war doch schon ganz gut“, sagte Liam, als es auf sieben Uhr zuging.
„Ja, aber nicht ich muss singen, sondern Aubrey“, erwiderte ich. „Also ist es eigentlich ganz egal, wie ich bin. – Aber du warst auch… gut“, fügte ich hinzu. Er grinste. „Stimmt. Danke.“ Wir verließen gemeinsam den Raum.
„Ich habe gehört, du bist nicht mehr mit deinem Freund zusammen?“, fragte er plötzlich.
„Äh – ja, stimmt“, antwortete ich etwas überrascht. „Woher weißt du das?“
„Deine Freundinnen haben drüber geredet“, erklärte er. „Ich dachte, ich hätte ihn auf der Premiere gesehen.“
„Hast du auch“, bestätigte ich. „Wir bleiben wohl so etwas wie Freunde.“ Obwohl ich auch daran inzwischen zweifelte – wir hatten ja kaum Zeit, miteinander zu reden. In der gleichen Branche lebten wir doch in zwei verschiedenen Welten.
„Hm, aha“, machte er. Was das bedeutete, fand ich allerdings nicht mehr heraus.

Am folgenden Samstag war ich mit Jamie verabredet. Wir hatten beschlossen, einmal unsere Aufgaben links liegen zu lassen und die klare Februarsonne zu genießen. Wir schlenderten durch die Stadt und setzten uns trotz der Kälte nach draußen, vor ein Café. Das war sein Vorschlag gewesen.
„Jamie, du warst letztens erst krank!“, warnte ich, aber er grinste nur.
„Ach, mir geht’s blendend“, erwiderte er, und wir hüllten uns in die bunten Decken ein, die über den Stuhllehnen hingen, tranken Kakao und unterhielten uns. Irgendwie kamen wir dadurch auf diese Frage-Antwort-Unterhaltung: einer stellte eine Frage, dann der nächste.
„Deine Traumrolle?“, wollte ich wissen. Er musste nicht lange nachdenken.
„Toni, Westside Story. – Und deine?”
„Sarah, Tanz der Vampire.“ Ich dachte kurz nach. „Wohin willst du mal reisen?“
„Ich will Stonehenge sehen. Wer ist dein Lieblingsautor?“
„Keine Ahnung, ich mag viele gern.“
„Das ist keine richtige Antwort.“
Ich seufzte. „Na gut – sagen wir Rafik Schami.“
Er nickte zufrieden und ich dachte über meine nächste Frage nach. Ich musste grinsen.
„Okay: Welche Frau würdest du gern mal treffen?“
Er verzog den Mund. „Typische Frauenfrage.“ Aber dann antwortete er. „Sierra Boggess“, sagte er schlicht. „Ich liebe ihre Stimme.“
„Hat sie nicht Christine gespielt? Zum 25. Phantom-Jubiläum?“
Er nickte erneut. „Ja. Kennst du ihre CD?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Irgendwann leih ich sie dir aus.“ Er dachte kurz nach. „Mir fällt nichts mehr ein.“
Wir bezahlten unsere Getränke und schlenderten noch etwas durch die Stadt. Vor einem Bücherladen saß ein Mann auf einem Hocker und spielte Akkordeon. Wir blieben eine eile stehen, und er lachte uns freundlich an.
„Welches Lied darf ich dem Pärchen spielen?“, rief er.
„Wir sind kein-“ begann ich zu protestieren, aber Jamie schnitt mir das Wort ab.
„Können Sie Smoke gets in your eyes spielen?“
Der Mann nickte und begann. Ich kannte das Lied nicht, aber Jamie sah die ganze Zeit versonnen und gleichzeitig nachdenklich zu, wie das Instrument sich auseinander- und wieder zusammenfaltete. Wir applaudierten, zwei einsame Händeklatscher, und Jamie warf zwei Euro in den Becher, der vor dem Hocker auf dem Boden stand.
„Sehr löblich“, sagte ich scherzhaft, als wir weitergingen.
„Ich hätte ihm nur einen Euro gegeben, wenn er etwas anderes gespielt hätte“, erwiderte er. „Das war mein Lieblingslied.“
„Ich werd versuchen, es mir zu merken und zu Hause anzuhören.“
Er lächelte. „Ich werd dich dran erinnern.“
Was ich rette, geht zu Grund
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 06.07.2014, 14:57:43

Weiter geht's.

Nach diesem entspannten Wochenende ging ich gut gelaunt zur Schule. Obwohl ein anstrengender Tag vor mir lag, war ich nicht nervös. Ich hatte einen Ohrwurm von Smoke gets in your eyes, ein wirklich wundervolles Stück.
„Ich wusste, es würde dir gefallen“, sagte Jamie selbstgefällig, als wir uns im Ballettraum trafen. (Es grenzte an unmenschliche Grausamkeit, einen Schultag mit Ballett zu beginnen, aber heute war mir das egal.) Auf die anschließenden Schauspielstunden freute ich mich allerdings sehr: wir hatten jeder die Einzelaufgabe, einen Song zu erarbeiten und bis ins kleinste Detail wie einen Auftritt zu planen. Ich hatte mich für Gold aus Camille Claudel entschieden. Wir sangen in alphabetischer Reihenfolge vor, und Sarah, die den Anfang machte, trug Ein neues Leben aus Jekyll&Hyde so selbstbewusst und einfühlsam vor, dass ich es ein wenig mit der Angst bekam. Aber ich gönnte ihr den Erfolg – ich wusste, wie viel ihr das Lied bedeutete. Auch Parker wusste ihre Leistung zu würdigen. Liam trug Ein Traum ohne Anfang und Ende aus Die Päpstin vor, und ich musste zugeben, dass er sehr apart mit seiner Mimik spielen konnte. Und dass er einfach herzzerreißend ehrlich sang. Als ich an der Reihe war, gelang es mir sogar zu meiner eigenen Überraschung, am Ende des Liedes zu weinen. Nicht, weil ich so ergriffen war, sondern weil ich herausfand, wie man auf Druck weinen konnte. Nein, eigentlich wusste ich danach immer noch nicht genau, wie es funktionierte; ich wusste nur, dass ich es konnte. Auch wenn es mir lieber war, wahre Emotionen zu zeigen.
Wir bekamen direkt danach unsere Bewertungen, und meine fiel erfreulich gut aus.
„Bei Ihnen weiß ich immer, dass Sie der Rolle nachfühlen können“, sagte Parker zufrieden. „Sie spielen sehr echt und ehrlich. Das gefällt mir. Anfänglich war auffallend, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich auf Gesang und Spiel zu konzentrieren, das eine litt meistens etwas unter dem anderen. Aber heute haben Sie mich überzeugt!“
„Danke!“, sagte ich erleichtert. Es tat gut, positive Resonanz zu bekommen.
„Wie ist es eigentlich bei Rebecca gewesen“, fuhr er fort, „in Bezug auf Ihre Rolle? Konnten Sie sich leicht hineinversetzen?“
„Oh ja!“, antwortete ich, ohne nachzudenken. „Ich habe das Buch schon öfters gelesen und konnte mich schon damals mit der Person, hm, identifizieren“, sagte ich kleinlaut. „Wegen ihrer Unsicherheit…“
Er nickte wissend.
„Und die anderen haben mir sehr geholfen.“
„Inwieweit?“, wollte er wissen, und ich erzählte ihm halb verschämt, halb belustigt von unserem Abstecher ins Adlon. Er lachte herzlich darüber. „Das war eine sehr geschickte Übung!“, sagte er. „So etwas sollte man tatsächlich öfter machen!“
Nach diesem Gespräch verließ ich den Unterricht mit bester Laune. Sogar Theatergeschichte machte mir Spaß, und in Ensemblearbeit bekamen wir eine Gruppenaufgabe: einen Song so aufsplitten, dass jeder ungefähr gleich viel sang, und nachspielen. Kostüme würde man uns wenn möglich zur Verfügung stellen. Ich war in einer Gruppe mit Michael, Mark und Anna. Wir schoben ein paar Vorschläge hin und her, machten uns Notizen und einigten uns überraschend schnell auf Rote Stiefel aus Tanz der Vampire. So würden die, die nicht sangen, tanzen können, und umgekehrt. Der Vorschlag kam von Anna, die mir bisher immer etwas fremd war. Sie strengte sich an, und obwohl sie in manchen Fächern offensichtliche Schwierigkeiten hatte, verlor sie nie ihren Eifer. Ich bekam während unserer Diskussionen die Möglichkeit, sie besser kennen zu lernen und nahm mir vor, öfter mit ihr zu reden. Sie war lieb und ruhig und zu Unrecht eine Außenseiterin.
Als nach diesen Stunden Unterrichtsfrei war für die anderen, musste ich mit Liam proben.
„Ist Aubrey denn immer noch krank?“, fragte Sarah, die mich noch ein Stück durch die Schule begleitete.
„Scheint so“, antwortete ich. „Mir hat sie geschrieben, dass sie jetzt auch noch eine Angina bekommen hat.“
„Dann kann es dauern, bis sie wiederkommt“, schlussfolgerte Sarah. „Wirst du auch bei der Vorführung für sie einspringen müssen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Mrs. Paige sagte, sie würde die beiden später vorsingen lassen. Ist ja auch nur gerecht.“
„Stimmt.“ Sie blieb stehen und umarmte mich zum Abschied. „Viel Spaß“, meinte sie augenzwinkernd. Ich sah sie gespielt entrüstet an, dann kehrte ich leise seufzend um.

Draußen schneite es, ich konnte die Flocken schemenhaft vor dem dunklen Fenster sehen. Inzwischen war meine Laune um einiges gesunken – weil ich Schwierigkeiten mit dem C-Teil von Wehrlos hatte. Ich bekam es bei der Stelle Und es bleibt nichts, als uns der Wahrheit zu ergeben/ Weil sie größer ist als wir/ Weil sie stärker ist als wir/ Weil sie unbesiegbar ist einfach nicht hin, das unbesiegbar zu belten. Immer wieder rutschte ich in die Kopfstimme.
„Verdammt!“, brach ich mitten im Lied ab und schlug meinen Text auf das geschlossene Klavier. „Warum klappt das nicht?“
„Bleib locker“, sagte Liam. „Du musst es ja nicht perfekt können.“
„Trotzdem“, erwiderte ich frustriert. „Ich will es können. Ich mag das Lied.“
Er dachte kurz nach, dann packte er mich an den Schultern und drehte mich zu sich.
„Schließ die Augen“, sagte er. Ich sah ihn misstrauisch und mit stolperndem Herzen an.
„Warum?“
„Mach schon“, erwiderte er geduldig. Ich schloss die Augen, auch wenn es mich aus einem mir unbekannten Grund noch nervöser machte.
„Und jetzt singst du den Teil alleine“, sagte er. Seine Hände lösten sich von meinen Schultern, und ich war ein bisschen enttäuscht. Anouk!, dachte ich streng. Reiß dich zusammen!
Etwas klapperte, dann spielte Liam auf dem Klavier die Melodie nach. Ich wartete auf meinen Einsatz und begann ab Und es bleibt uns nichts. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es besser klappte.
„Es funktioniert nicht“, sagte ich resigniert und ließ die Augen geschlossen. Ich war müde. Im nächsten Moment hatte ich das eigenartige Gefühl, das man immer hat, wenn sich einem jemand unbeobachtet nähert. Wenn er sehr nahe kam. Ich konnte gar nichts machen, stand einfach stocksteif da, als Liams Lippen sich auf meine legten. Ganz kurz nur, aber ich war so überrascht, dass ich zusammenzuckte. Ich blinzelte ihn an, und er grinste verschmitzt.
„Ist mir wohl so… rausgerutscht“, meinte er, aber dann schüttelte er den Kopf und wurde ernst. „Nein, es war geplant.“ Er nahm meine Hände. „Anouk“, sagte er feierlich, „wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich kein Mann hochtrabender, emotionaler Worte. Aber für dich versuch ich’s trotzdem.“
Ein kleiner Teil von mir fragte sich, wo er das auswendig gelernt hatte. Aber der Rest wollte einfach nur MEHR! (Besonders ausgefallen waren seine nächsten Worte allerdings auch nicht.)
„Anouk, ich fürchte, ich habe mich trotz unserer ewigen Streitereien… in dich verliebt.“
„Wie seltsam“, antwortete ich nach einer Weile. Er sah mich fragend an.
„Ich glaube… ich auch“, fuhr ich fort. Er unterdrückte ganz offensichtlich ein süffisantes Grinsen.
„Reicht es aus, um es miteinander zu probieren?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Hm.“ Ich schürzte die Lippen. Sie fühlten sich gut an. „Denke schon.“
Er legte die Arme um mich. „Das ist… cool“, meinte er dann. Selbstzufrieden, definitiv war er selbstzufrieden. Ich gab ihm einen sachten Schlag vor die Brust. „Aber ich werde dafür sorgen, dass dein übergroßes Ego nicht noch mehr gestreichelt wird.“
Er lachte. „Ja, versuch nur, mich umzuerziehen. Das hat bisher noch keiner geschafft.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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