Ou, schön, ein neuer Leser!
armandine hat geschrieben: trotz ein paar kleinerer sachlicher Ungereimtheiten
Welche zum Beispiel? Nu damit ich weiß, was ich verbessern muss...
Es war nicht die Zeit, um Angst zu haben. Es schien eine Ewigkeit und doch nur einen Sekundenbruchteil zu dauern, ehe ich auf der Bühne stand. Ich erinnerte mich an den Blick, den Marius mir zugeworfen hatte, und die stumme Botschaft:
du schaffst das! Der Vorhang hob sich zeitgleich mit dem Einsetzen des Wellenrauschens.
Manderley, dachte ich.
Konzentrier dich auf deine Geschichte, auf deine Rolle! Vergiss alle! Zuerst war es schwer für mich. „Ich hab’ geträumt von Manderley“, begann ich zu singen. Ich bemerkte, dass meine Stimme ein wenig zitterte. Doch als das Ensemble hinter mir zu singen begann, fühlte ich mich nicht mehr so einsam. „Und der Mond scheint hell, und der Fliederduft ist so süß und sehnsuchtsschwer. Und wie damals liegt Unheil in der Luft, doch heut schreckt es mich nicht mehr!“ Ich spürte, wie die Worte einmal mehr mit meinen Gefühlen übereinstimmten, wie die Musik mich auszufüllen schien und die Töne glatter und sicherer über meine Lippen kamen. Und als die Kulisse wechselte – Frankreich im Jahr 1926, Eingangshalle des Hotels - war ich schon nicht mehr ich selbst.
Ich erlebte die Premiere sehr intensiv. Hatte ich geglaubt, bei
Wicked meinen Körper mit Elphaba zu teilen, so verschmolz ich nun regelrecht mit meiner Rolle. Als ich das erste Mal hinter der Bühne verschwand, fand ich mich in einem Anflug von Verwirrung in der Realität wieder. Niemand sagte etwas. Stefan nickte mir kurz zu, und ich lauschte auf die Stimmen und die Musik und konnte es gar nicht abwarten, erneut die Bühne zu betreten.
Meine Angst kehrte so plötzlich zurück, dass mir übel wurde – in dem Moment, als ich auf der Treppe stand und mein Name angekündigt wurde –
Mrs. De Winter! Für einen kurzen Moment blitzte meine eigenartige Vision wieder auf, dass ich die Treppe hinterstürzen könnte. Aber ich bewältigte die Stufen mit einem leisen Lächeln, klammerte mich am Geländer fest und hoffte, dass niemand sehen konnte, wie ängstlich ich in Wirklichkeit war. Erst, als Maxim sein Glas fallen ließ und mich anherrschte, fand ich wieder in die Szene zurück.
Ich flüchtete von der Bühne, und Mrs. Danvers’ Triumphgesang hallte ein wenig dumpf hinter mir her. Auf eine zufriedenstellende Art erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Der aufbrandende Applaus zerrte meine Mundwinkel in die Höhe. Nach und nach strömten die Darsteller hinter die Bühne. Marius stieß mich an, und ich schaute zu ihm hoch.
„Wir hätten uns nicht ausdenken sollen, was alles schief gehen könnte!“, sagte er. „Als du auf der Treppe standest, musste ich daran denken und beinahe lachen!“
„Echt? Ich bin fast eingegangen vor Angst“, gestand ich, was mir einen weiteren sanften Stoß einbrachte, diesmal von Janine.
„Alles ist gutgegangen!“, beruhigte sie mich. „Mach dir am besten keine weiteren Gedanken über den ersten Akt – konzentrier dich direkt auf den zweiten!“
Muriel gesellte sich zu uns, aber es kam kein echtes Gespräch mehr zustande – einerseits, weil ich Janines Rat beherzigte, andererseits weil Muriel immer noch sehr streng und unnahbar aussah.
Natürlich kehrte das Lampenfieber vor dem zweiten Akt zurück. Aber die erste Szene half mir, mich abzureagieren:
Und das und das und das beinhaltete ein breit gefächertes Repertoire an Emotionen – Angst, Mutlosigkeit, Verzweiflung, Resignation, irgendwie aber auch Entschlossenheit… Und Muriels Auftritt half mir erneut, gänzlich in der Situation zu versinken.
Erneut aufgeregt wurde ich, als
Kein Lächeln war je so kalt endete. Aber ich ließ nicht zu, dass meine Nervosität die Szene versaute. Marius, der eine unbeschreibliche Leistung abgeliefert und einen frenetischen Applaus erhalten hatte, legte die Hände an meine Wangen.
„Sieht mich an. Das Kind in deinen Augen ist verschwunden.“
„Ja“, antwortete ich fest. „Ich werde nie wieder ein Kind sein.“
Er ließ mich los, ein geschlagener Mann. „Kannst du mir ins Gesicht sehen und sagen, dass du mich noch liebst?“
Ich sah ihn an. „Aber ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr!“
Wir fielen uns in die Arme und küssten uns, und vereinzelt im Saal wurde geklatscht oder geraunt.
Der Rest des Stücks verlief ohne Schwierigkeiten oder Patzer. Beim
Epilog fühlte ich mich leicht, beschwingt und ein wenig traurig – die Premiere war in wenigen Augenblicken vorüber. Der Vorhang fiel, Applaus brandete auf. Für einige Sekunden vergaß ich, was wir für den Schlussapplaus ausgemacht hatten, aber einige Ensemblemitglieder scheuchten mich regelrecht von der Bühne, während sie in ihre Aufstellung gingen. Ich reihte mich in die Reihe ziemlich weit hinten ein – vor Marius und hinter Muriel – und lauschte auf die Pfiffe und Rufe und das Klatschen. Trotz meiner Freude konnte ich gar nicht richtig lächeln, als ich endlich auf die Bühne lief und mich verbeugte. Alles war plötzlich so unwirklich und überfordernd, und ich war in Gedanken schon wieder bei meiner Familie und meinen Freunden. Es dauerte eine Weile, bis wirklich alle Beteiligten auf der Bühne standen. Ein paar Worte wurden gesagt, ein Dankeschön an diverse Sponsoren, die obligatorischen Blumensträuße überreicht – dann konnten wir uns endlich hinter die Bühne verziehen. Erst jetzt fielen wir uns in die Arme und tauschten uns aus.
„Und, wie fühlst du dich?“, fragte Muriel.
„Komisch“, gab ich zu, und sie lachte. „Und müde“, fügte ich hinzu.
„Tja, die Premierenfeier kannst du nicht sausen lassen“, meinte sie. Das hatte ich auch gar nicht vor. Alice scharte uns um sich, ehe wir in die Garderoben gehen konnten.
„Das war eine gelungene Premiere!“, sagte sie und wirkte sehr zufrieden. „Jetzt wir haben Premierenfeier; lasst euch nicht zu viel Zeit, aber erholt euch wenigstens etwas. Muriel, Anouk, Marius: ihr geht als letztes auf die Feier. Es müssen ein paar Fotos gemacht werden für die Presse, right? Aber das wird nicht so lange dauern. Also, sehr gut gemacht!“
Wir applaudierten kurz, dann zogen wir uns zurück. In der Garderobe ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und starrte in den Spiegel. Mein Ebenbild grinste mir zu, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen.
Habe ich das wirklich getan?, dachte ich. Ist das real? Es fühlte sich so an. Langsam und sehr vorsichtig schlüpfte ich aus meinem Kostüm und in mein Kleid, das ich extra für die Premierenfeier gekauft hatte. Ich kämmte einige Male über meine Haare, die sich unter der Perücke in eigenartige Wellen gelegt hatten, und brachte mein Kostüm zurück. Saskia, die in der Maske arbeitete, päppelte meine Frisur mit etwas Haarspray und gekonnten Griffen wieder auf.
Als ich den Garderobengang verließ, warteten Marius und Muriel bereits auf mich.
„Fertig?“
Ich nickte. Gemeinsam gingen wir nach oben und betraten das Foyer.
„Keine Bange“, sagte Marius, als ich die vielen Fotografen sah. „Lächle einfach ein bisschen, beantworte ein paar Fragen, das war’s.“
Leichter gesagt, als getan. Die Fotorunde war schnell vorbei, und einige Zeitungen wollten tatsächlich ein paar Worte von uns hören. Meistens fragten sie das gleiche – wie ich mich fühlte, ob ich stolz war, ob meine Mitschüler neidisch waren. Ich beantwortete die Fragen mit den besten Absichten, und nach etwa dreißig Minuten betraten wir die obere Etage des Gebäudes. Überall waren kleine Tische aufgestellt, um die sich Gäste und Darsteller gruppierten, plauderten und etwas tranken. Ich sah mich um und suchte mit den Augen die Menge ab, als mir jemand um den Hals fiel.
„Verdammt noch mal,
das war unglaublich!“, schrie Sarah mir ins Ohr. „Ich meine – hast du dich mal spielen gesehen?
Wahnsinn!“
Ich grinste Mrs. Paige und Liam, die hinter ihr standen, verlegen an.
„Herzlichen Glückwunsch, Anouk“, sagte Mrs. Paige.
„Danke“, antwortete ich. Liam schlug mir gönnerhaft auf die Schulter.
„Tatsächlich, ich muss sagen… Gut gemacht“, bestätigte er gespielt großspurig. „Und dieser…
Marius – ich muss mich geschlagen geben: bei unserem Duett habe ich nicht so gut gesungen. Aus dem könnte was werden.“
„Haha“, sagte ich, aber ich war schon wieder abgelenkt: meine Mutter, einige Verwandte und zu meinem Erstaunen auch Daniel standen einige Meter entfernt und warteten. Ich ging zu ihnen, ließ mich drücken und beglückwünschen und versicherte ihnen mehrere Male, dass ich mich großartig fühlte. Schließlich stand ich Daniel gegenüber, und wir waren erschreckend unsicher. Als ob wir uns nie wirklich gekannt hätten.
„Hi“, sagte ich.
„Hallo“, erwiderte er. „Also… das war… gut.“ Er grinste schief. „Ich meine, es war natürlich großartig.“ Er griff nach meiner Hand. „Ich schwänze zwei Tage Schule, um hier sein zu können.“
„Du hättest doch am Wochenende kommen können“, tadelte ich ihn leise. Aber insgeheim war ich froh, dass er mir nicht aus dem Weg ging. Der Gedanke, dass ich mich ursprünglich heute hatte von ihm trennen wollen, war…
furchtbar! Wir verbrachten noch einen netten Abend, und je später es wurde, desto weniger Gäste waren anwesend. Als die ersten Darsteller sich verabschiedeten, machte auch ich mich auf den Weg, zusammen mit meiner Mutter und Daniel – sie bewohnten das gleiche Hotel wie ich. Es dauerte eine Weile, ehe ich mich von meinen Freunden und Verwandten lösen konnte, denn jeder hatte noch ein paar liebe Worte für mich übrig –
stolz und
wundervoll kamen am meisten darin vor. Ich war furchtbar erschöpft von all der Aufregung und dem Glück, und schon wieder ein wenig nervös – denn morgen würde eine weitere Vorstellung sein.