Schön, dass es euch gefällt
Heute geht es mit dem neuen Teil weiter:
In Deutschland war es genauso kalt und verregnet wie in London. Ich kam am Flughafen an und wurde von meiner Mutter und ihrem neuen Freund abgeholt. Er war ganz nett, etwas rundlich, und Geschäftsmann; das passte eigentlich gar nicht zu ihr. Meine „Arbeit“, wie er es nannte, befremdete ihn etwas; als wir in seinem schicken Wagen saßen und nach Hause fuhren, versuchte er erst mitzureden, schwieg dann aber irritiert und lenkte das Auto durch die Straßen. Ich setzte meine Mutter über die neue Wendung in der Wohnungssuche in Kenntnis, und es war nicht überraschend, dass ihre Freude zurückhaltend war. Der Kurs, den ich mit einem Hauskauf in London einschlug, war eindeutig.
Ich war froh, ihrer Gesellschaft schnell zu entkommen. Alles fühlte sich unwirklich an, die vertraute Umgebung ging mir schon nach wenigen Stunden auf die Nerven, und ich empfand meine Mitmenschen plötzlich als grimmig und zugeknöpft. Im Bus verursachte ich einen Menschenstau, weil ich zwischen den ganzen Pfundnoten und Pennystücken kaum genug Euros fand, um mein Ticket zu bezahlen, und als ich in dem Café ankam, in dem ich mit Marius verabredet war, wünschte ich mich schon wieder weit fort. Wir hatten uns länger nicht gesehen, aber ich fand, er hatte sich, bis auf das schulterlange Haar, kaum verändert; er hingegen sah suchend an mir vorbei, als er das Café betrat, und ich musste von meinem Platz aufstehen und ihm zuwinken, damit er mich bemerkte.
„Meine Güte, Anouk!“, sagte er, nachdem wir uns umarmt hatten, und musterte mich. „Ich habe dich kaum wiedererkannt! Du siehst fantastisch aus, richtig elegant!“
„Tatsächlich?“ Ich sah an mir herunter – ich trug eigentlich meine gewohnten Sachen. Aber, fiel mir dann ein, meine gewohnten Sachen waren inzwischen anderer Art als in meinen Studienjahren – damals hatte ich Jeans und Pullover und einfache Zöpfe getragen, keine wadenlangen Mäntel in Königsblau oder schwarze Schuhe mit Absatz und dazu passende Taschen… „Das ist wohl wegen London“, lenkte ich halb im Scherz ein, „London macht einen richtig verwöhnt.“ Wir setzten uns.
„Ich kann nicht glauben, wie erwachsen du bist“, sagte er. „Natürlich habe ich von dir gelesen, aber… Wie ist es in London? Wie läuft es an den Theatern? Was hast du alles gemacht?“
Ich erzählte ihm von meinen Engagements, der Wohnungsmisere, Liams Eltern, der Stadt, den Leuten, meinen neuen Freunden und schrecklichen Kollegen, und ganz zum Schluss von dem großzügigen Premierengeschenk.
„Also willst du in London bleiben?“, fragte auch er.
„Ja“, antwortete ich, diesmal ohne zu zögern. „Erst fand ich den Gedanken schrecklich, so lange fort zu sein, aber jetzt… strengt mich Düsseldorf ziemlich an! Außerdem hat Liam einen guten Job, und falls es mit dem Haus klappt, ist das keine Anschaffung für kurze Zeit.“
„Habt ihr das Haus schon angesehen?“
„Nein“, antwortete ich, „Liam macht demnächst eine Stippvisite, ehe wir es zusammen besichtigen. Aber… es hat eine optimale Lage, nahe der Royal Albert Hall und des Hyde Parks. Eine tolle Gegend.“
„Klingt elegant.“
„Ist es, ist es…“ Ich versank kurz in einem meiner unzähligen Tagträume, in denen Liam und ich Arm in Arm durch die kleinen Gässchen schlenderten und uns des Lebens freuten, ehe ich mich blinzelt dazu durchrang, zum Geschäftlichen zu kommen. „Also“, sagte ich, „wie hast du dir die Aufnahmen eigentlich vorgestellt?“, und in den nächsten zwei Stunden versanken wir in Fachsimpeleien über Songaufnahmen, Interpretationen und Medley-Zusammenstellungen.
Zuhause – das heißt, in der Wohnung, in der nun auch der Freund meiner Mutter mit dem unsäglichen Namen Bertold (ich nannte ihn immer „Du“ oder begann Unterhaltungen mit „ähm, übrigens…“) lebte, probte ich für mich in meinem Zimmer die beiden Songs. "Totale Finsternis" sang ich eigentlich nur zum Spaß, ich konnte es ja inzwischen ganz gut, aber in den Elisabeth-Medley musste ich mich erst noch hinein denken. Das Ganze ging genau einen Tag lang gut, bis ich durch Zufall ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihrem Freund mit anhörte, als ich in der Küche nach einem Schokoriegel suchte. Die gedämpften Stimmen aus dem Wohnzimmer, die schon immer ein besonderes Gesprächsthema verheißen hatten, ließen mich aufhorchen. Ob ich immer übe, fragte er, und wie lange denn so am Tag?
„Ich weiß nicht, nicht sehr lange am Stück, aber immer mal wieder“, entgegnete meine Mutter arglos. „Warum fragst du?“
Nach einigem Rumgedruckse sagte er schließlich, es sei eine ungewohnte Situation, und überhaupt: „Heute ist Samstag, Wochenende, weißt du, und ich hatte eine anstrengende Woche, also…“ Seine Stimme wurde immer leiser, und ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir den Blick meiner Mutter vorzustellen.
„Ich habe dir gesagt, dass das passieren kann“, sagte sie abweisend. „Wenn es dir nicht passt, musst du halt spazieren gehen oder so. Anouk ist nicht lange hier, aber ihre Zeit Zuhause will ich ihr nicht durch irgendwelche Verbote vermiesen.“
Ich hörte noch ein gemurmeltes „Ich meinte ja nur…“, dann wurde der Fernseher eingeschaltet, demonstrativ auf laut gestellt und das Gespräch erstarb. Ich schlich zurück in mein Gästezimmer und zwang mich trotz den verteidigenden Worten meiner Mutter, für den Rest des Tages das Üben einzustellen.
Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg in die Stadt, zu der Musikschule, an der alles begonnen hatte. Es war ein seltsames Gefühl, sie wieder zu betreten – es roch immer noch nach Linoleum, ausgetretenen Teppichen und altem Parfum, aber die Frau hinter dem Tresen war eine andere, und von irgendwoher hörte ich die schiefen Stimmen eines Kinderchores.
„Hallo“, sagte ich und beugte mich über den Tresen, „ich würde jemanden sprechen, aber ich weiß nicht genau, ob er hier noch arbeitet…“
„Wenn es eine Lehrkraft ist, kann ich Ihnen ganz einfach Auskunft geben“, erwiderte die Dame freundlich, „haben Sie denn einen Namen?“
„Ja, natürlich. Es ist ein Lehrer, ein Gesangslehrer. Bertelin heißt er, ich meine, Claus Bertelin.“
„Ah, ja. Er arbeitet noch hier, allerdings gibt er gerade einen Schulkurs.“
„Ich habe Zeit.“
„Oh.“ Sie sah mich prüfend an, und ich lächelte rasch zurück. „Bitte“, sagte ich, „er ist ein alter Lehrer und ich würde ihn gern besuchen.“
„Tja, also…“ Sie wandte sich dem PC zu und scrollte durch eine Liste, die ich von der Seite nicht genau erkennen konnte. „Also, in einer Stunde kommt er zurück, aber er hat bereits kurz danach wieder einen Schüler…“
„Das macht nichts“, erwiderte ich rasch, „ich warte hier solange.“
„In Ordnung“, sagte sie, sichtlich unsicher, ob sie das Richtige gemacht hatte.
„Sagen Sie ihm einfach, Anouk Steger ist hier“, sagte ich und schrieb den Namen auf einen Werbeflyer für das Kinder-Orchester. „Wo kann ich auf ihn warten?“
Sie nahm den Zettel entgegen und ich sah, wie ihre Augen immer wieder den Namen lasen, als müsste er ihr etwas sagen.
„Ja, er unterrichtet immer in Raum A3, er ist…“
„…hier gleich links den Gang runter, zweite Tür rechts“, fiel ich ihr grinsend ins Wort, „ich weiß schon. Vielen Dank.“ Ich folgte den vertrauten Wegweisern und drückte, am Raum angekommen, probeweise die Klinke. Die Türe war nicht verschlossen. Rasch warf ich einen Blick zurück, aber vom Tresen aus würde man mich nicht sehen können, und sonst war niemand zu sehen. Schnell schlüpfte ich durch die Türe und schloss sie rasch wieder. Ich sah mich um. Es roch nach Holz und Farbe, und der graue Teppichboden war durch einen neuen, dunkelblauen ersetzt. Die Wände waren weiß gestrichen, und es hingen Bilderrahmen daran. Es gab auch ein neues Klavier, einen richtigen Flügel, aber an die Wand geschoben stand immer noch das alte, abgewetzte Instrument, das ich von meinen Stunden hier kannte. Ich strich mit den Händen über den Deckel, und es blieb kein Staub an meiner Haut kleben. Bertelin musste immer noch darauf spielen, vielleicht sogar lieber als auf dem glänzenden Flügel. Langsam und leise ging ich entlang der Wände, sah die Bilderrahmen an. Sie zeigten alte Schüler, die mit Hilfe Bertelins etwas geschafft hatten – ich sah Jugendliche auf Probebühnen, Erwachsene hinter hohen Mikrofonen, und zwischen all den Gesichtern lächelte auch ich mich an – ein jüngeres Ich, etwas pausbäckiger und hellhaariger als jetzt, ich saß auf einer Bühne auf einer Bank und hielt einen Zeichenblock in den Händen. Unter jedem Foto klebte ein kleines Schildchen; auf meinem stand „Anouk Steger,
Ich in
Rebecca.“ Ich fuhr mit dem Finger über die Rahmenkante und wischte etwas Staub ab, dann zog ich mein Handy und fotografierte den Rahmen mit meinem Bild. Dann gab es für mich nichts zu tun. Ich spürte ein bekanntes Drängen in mir und setzte mich an den Flügel. Der Hocker davor war weich und hoch gepolstert, so ungemütlich wie nur ein neuer Hocker sein konnte. Ich klappte den Deckel auf und legte meine Finger auf die Tatstatur. Ich konnte noch nie richtig spielen, aber viele Lieder, die ich gesungen hatte, konnte ich immerhin begleiten – gelernt hatte ich das durch pures Abschauen und Nachmachen. Ich sang als erstes Totale Finsternis, ganz allein, dann versuchte ich, einige Elisabeth-Songs nach Gehör zu spielen, aber das klappte natürlich nicht, also blieb ich bei bekannteren Sachen: "Nur für mich", das erste Lied, das ich hier gesungen hatte, "Zeit in einer Flasche", ein Stückchen „Love never dies“. Zwischendrin machte ich immer wieder kleine Pausen, in denen ich Stimmübungen einlegte, dann sang ich „Only love“, das ich durch mein erst kurz zurückliegendes Vorsingen noch am besten Spielen konnte.
Der Flügel war laut und ich saß mit dem Rücken zur Tür, deswegen bemerkte ich nicht, dass die Stunde um und Bertelin zurück gekommen war. Erst als ich endete und jemand hinter mir in die Hände klatschte, drehte ich mich rasch um.
„Nun klatsch schon Jonathan, klatsch schon!“ Er lachte mich an. „Anouk Steger!“, dröhnte er und kam auf mich zu, um mich zu umarmen. Sein Schüler stand immer noch etwas irritiert in der Türe.
„Als die Sekretärin mir den Zettel gab, konnte ich’s kaum glauben! Ich habe letztens noch mit dir angegeben, als hätte ich’s geahnt!“
Ich lächelte. „Also, das machen Sie immer noch?“
Er lachte. „Nicht mehr so oft wie früher, aber als du Elisabeth gespielt hast, hatte die Geschichte wieder ein Hoch.“ Er winkte seinen Schüler zu sich. „Jonathan hier probt heute auch etwas aus
Elisabeth, vielleicht möchtest du da bleiben? Ich habe danach ein Stündchen Zeit, für welches Anliegen auch immer.“
Ich warf einen kurzen Blick auf Jonathan, der die Vorstellung meiner Anwesenheit gar nicht gut fand.
„Wissen Sie, ich warte draußen“, sagte ich rasch, „ich habe etwas zu lesen dabei.“ Ich zog mich nach draußen zurück, und als drinnen die ersten Tasten angeschlagen wurden, rief ich zu Hause an und sagte meiner Mutter, wo ich war.
„Willst du deinen alten Lehrer besuchen?“, fragte sie.
„Das auch, aber eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Probenraum für die Wochen, die ich hier bin. Ich habe vor, in London zu Auditions zu gehen, dafür will ich üben.“ Die Antwort kam ganz spontan, aber als ich sie aussprach wusste ich, dass es wahr war: ich würde mich nach neuen Jobs umsehen müssen.
„Aber das kannst du doch hier!“, sagte meine Mutter. „Du hast doch auch gestern geübt.“
„Ja, und ich habe gestern auch gehört, was dein Freund davon hält.“
Es entstand eine kurze Pause. „Ach, Anouk“, sagte sie schließlich verlegen, „ich habe das mit ihm geklärt, alles in Ordnung…“
„Ich will nur nicht, dass es Streit gibt“, sagte ich abwehrend, „und jetzt, wo ich weiß dass er sich gestört fühlt, kann ich sowieso nicht unbefangen proben. Ich will Bertelin fragen, ob ich hier einen Raum kriege, und sei es nur für ein paar Stunden.“
„Oh Anouk, bitte sei ihm nicht böse!“, sagte sie. „Es ist nur so neu für ihn, er kennt dich gar nicht richtig…“
„Schon okay, Mama“, erwiderte ich rasch, „ich verstehe das. Ich glaube, es ist so für alle besser.“
Nach dem Telefonat wartete ich in einem der großen Sessel, bis Jonathan mit roten Wangen aus dem Probenraum trat. Ich lächelte ihm zu, als er an mir vorbei ging, und als er den Gang hinunter lief blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal um und kam zurück, um nach einem Autogramm zu fragen, „weil ich noch nie eine Musicaldarstellerin getroffen habe.“ Trotz der wirren Erklärung gab ich ihm eines. Bertelin lachte darüber, als ich in den Raum kam.
„Jonathan strebt auch ein Musical-Studium an“, erklärte er, „im Moment ist er also begeistert von allem, was damit zu tun hat. – Und jetzt erzähl mir, warum du gekommen bist.“
Ich legte ihm die Situation rasch dar: dass ich einen Probenraum brauche, wenigstens für ein paar Tage, um mich für die Aufnahmen vorzubereiten, ob er vielleicht aushelfen könne. Ich würde auch bezahlen.
„Papperlapapp“, er wischte mit der Hand durch die Luft, „hier wird gar nichts bezahlt. Ich habe nachmittags immer zwei freie Stunden, in der Zeit kannst du diesen Raum nutzen, und falls ich in meinem Plan noch ein paar Löcher finde, kannst du die auch gerne nutzen.“
Ich war erleichtert. „Danke“, sagte ich, „dass Sie mir auch jetzt noch gratis aushelfen.“
Er musste lachen. „Wenn du möchtest, nehme ich das in meine Erzählungen mit auf“, sagte er, „damit ich dich nicht zu sehr lobe.“