Danke für deine Reaktion
Hier die Antwort:
Wir wurden durch einige Teammitgliedern in Vampir-Shirts so leise wie möglich eingelassen. Auf der Probebühne wurden gerade Anweisungen und Vorschläge ausgetauscht, und wir schoben uns leise in die hinterste der locker aufgestellten Stuhlreihen. Ich starrte umher, begrüßte lautlos einige Ensemblemitglieder und beobachtete aus dem Augenwinkel Liam.
„Okay, und noch mal den letzten Teil. Ruhe bitte!“ Die durchdringende Stimme der Sprechenden irgendwo weiter vorne ließ mich zusammenfahren und sorgte augenblicklich für Ruhe. Zeitgleich mit dem Klavier begann Alexej, ein letztes Drittel der
Gier anzustimmen, und ich konnte geradezu sehen, wie die Zahnräder hinter Liams Stirn klickend ineinander griffen und ihm passend zu Alexejs Namen ein Gesicht, eine Geschichte und ein paar unangenehme Gefühle eingaben. Ich beobachtete, wie seine Lippen den Namen des Sängers formten, ehe er mich so schnell ansah, dass ich nicht mehr rechtzeitig wegschauen konnte. Die Schuld schien mir auf dem Gesicht zu stehen.
„Ist das…?“
Ich griff nach seiner Hand. „Ja…“
Er musterte mich. „Du siehst aus, als wüsstest du schon länger mehr als ich.“
Ich musste nicht antworten. Er wieder nach vorne und beobachtete mit schmalen Augen Alexej.
„Liam“, flüsterte ich, „es tut mir wirklich leid… Ich wusste nicht, wie ich mit dir darüber reden sollte. Und eigentlich gibt es ja gar nichts zu reden. Es wird gar keine Probleme geben.“ Ich drückte seine Hand, um meine Worte zu bekräftigen. Vorne endete das Lied und ein kleiner Tumult kam auf, als alle Darsteller sich erhoben oder in ihren Texten blätterten. Liam lächelte mir zu. „Natürlich nicht“, sagte er ruhig. „Warum sollte es Probleme geben? Ivanow weiß inzwischen sicher genau, wem du… zugetan bist.“
Ich starrte ihn an. Natürlich war ich mehr als froh, dass der erwartete Konflikt ausblieb. Andererseits gab es mehrere Kleinigkeiten, die mich an seiner Reaktion beunruhigten: die Tatsache zum Beispiel, dass er Alexej beim Nachnamen nannte, meines Erachtens nach ein untrügliches Zeichen von gefühlter und gezeigter Überlegenheit sowie Herabsetzung des Anderen; seine etwas zu ausgeprägte Lockerheit und das Lächeln, das fast etwas grimmig-entschlossen wirkte.
Da wir beschlossen hatten, unsere Beziehung während der Proben nicht offen auszuleben, lösten wir unsere Hände voneinander und begaben und, brav hintereinander hergehend, in den vorderen Hallenbereich. Hier konnte ich sehen, dass mehrere Platten glänzenden Tanzbodens aneinander zu einer langen und recht tiefen Probebühne gelegt waren; an den Rändern waren einige nicht allzu sperrige Kulissenteile wie zwei Betten, die große und die kleine Badewanne, einige Särge sowie mehrere kleinere Möbelstücke gelagert. Die Traversen, die sich durch den Lagerhallencharakter der Räumlichkeiten ohnehin überall fanden, waren teilweise mit verschiedener Technik wie Lautsprechern und Scheinwerfern ausgestattet. Offenbar wurde die Halle für mehrere Zwecke verwendet; der vordere Teil mit der Bühne, den Kulissen, dem Klavier und den Stuhlreihen bildete den eigentlichen Proben- und Vorbereitungsraum; von dort aus konnte ich die hintere Hallenhälfte gut überblicken, in der sich ein langer Tisch, Schneidereiutensilien und einige Kostümteile befanden.
Liam begrüßte zwei Ensemblemitglieder (diejenigen, die er von seiner Zeit als Phantom kannte), und ich kam über diverse Begrüßungen ebenfalls ins Gespräch: zunächst mit einer Tänzerin, die schon zu meiner Zeit als Sarah den weiblichen Nightmare-Part getanzt hatte, anschließend mit dem Alfreddarsteller Arjen und dem Sarah-Cover Elena, eine nette Halb-Spanierin, so zierlich und klein, dass sie wahrscheinlich gleich zwei Mal unter Liams weiten Umhang passen würde. Neben meinem London-Aufenthalt waren natürlich die bisherigen Proben ein wichtiges Gesprächsthema; besonders Arjen konnte die Abläufe sehr pointiert nacherzählen und das Ganze durch seinen ulkigen Akzent noch abrunden. Ich erfuhr so rasch, welche Schneiderin ungeschickt mit den Nadeln war, wie viel es über den naiven Regieassistenten tatsächlich zu lachen gab und dass das Ensemble noch in der Kennenlernphase steckte, sich aber immer mehr einer angenehmen Vertrautheit näherte.
„Wie lange probt ihr denn schon?“, erkundigte ich mich.
„Seit ungefähr zwei Wochen“, antwortete Arjen. „Wir haben ziemlich wacklig begonnen, die Hälfte Erst- die andere Hälfte Zweitbesetzung proben lassen, jetzt sind wir erst richtig komplett mit euch und noch ein paar anderen. Es läuft aber ganz gut.“
„Ja, ich bin schon gespannt auf den echten Grafen!“ Elena warf mir ein schelmisches Grinsen zu. „Liam habe ich mal als Phantom gehört, irgendwie war es ja wohl nicht so toll für die meisten, aber ich habe ihn geliebt. Nimm es mir nicht übel wenn ich hoffe, dass du recht viele Off-Termine hast!“ Sie sagte das alles in einer so zwanglosen, schelmischen Art, dass ich es ihr gar nicht übel nehmen konnte. Ich wurde sogar ein wenig übermütig:
„Ach, ist Alexej denn nicht zu deiner Zufriedenheit?“
„Oh, doch, er ist toll. Aber du hast doch auch schon mit ihm gespielt?“
„Oh, äh, ja, stimmt…“
„Habt ihr euch schon begrüßt?“ Sie hob den Arm und winkte in die Menge.
„Nein…“, murmelte ich, „und es ist auch gar nicht… Aah…“ Mein Protest ging in Elenas Heiterkeit unter, und Alexej bahnte sich seinen Weg durch das schnatternde Ensemble.
„Hallo, Anouk“, sagte er, als er bei uns stand und hielt mir die Hand hin.
„Ah, hallo, Alexej“, murmelte ich und erwiderte den höflichen Gruß. Elena lobte ihn für seinen Auftritt gerade, und er dankte ihr herzlich, ehe er sich mir wieder zuwandte.
„Tja, was für eine Überraschung, nicht war?“ Um seinen Mund lag ein halb gequälter, halb ironischer Zug.
„Ja, das ist es“, antwortete ich, und gleichzeitig tauchte wie aus dem Nichts Liam neben mir auf.
„Alle ganz nett bisher“, murmelte er mir halblaut zu, und dann, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt, begrüßte er Alexej. „Ach, Ivanow… Alexej!“ Nach dieser seltsamen Männerart nannte er ihn erneut beim Nachnamen, und ich spürte, wie sein Körper sich straffte, als er sich zu seiner ganzen Bühnengröße aufrichtete. „Was für eine Überraschung!“ Er reichte ihm gelassen die Hand.
„Ja“, sagte Alexej, „ich sagte auch gerade zu Anouk, ein ziemlicher Zufall, dass wir uns hier erneut treffen.“
„Ich meinte eigentlich eher, dass Sie… dass du die Zweitbesetzung spielst… Warst du damals in Berlin nicht Erstbesetzung? Und in Russland?“
„Ja, so war es. Dort war ich es vor kurzem erneut, für… es muss tatsächlich über ein Jahr gewesen sein!“
„Fantastisch! In Deutschland standest du also all die Jahre nicht mehr auf der Bühne?“
„Ebenso wenig wie du, nehme ich an.“
„Richtig. Anouk und ich“, er drückte mich kurz, aber unübersehbar an sich, „haben unseren Wohnsitz nach London ausgedehnt. Sicherlich hast du von ihren Engagements gelesen – sie waren ja auch nicht gerade klein! Ich habe ihre Karriere unterstützt und an einer Akademie für Musik und Schauspiel gelehrt.“
„Das ist sehr rücksichtsvoll.“ Der ironische Zug um Alexejs Lippen vertiefte sich. „Nicht jeden erfüllt die Bühne allein.“
„Oh, ich konnte sehr viele nützliche Erfahrungen sammeln, durch das Unterrichten. – Hast du in all der Zeit bloß den Krolock gegeben?“
„Durch eine Konzerttour habe ich dieses Engagement einige Male unterbrochen.“
„Na ja, trotzdem… ist das denn erfüllend? Als Darsteller?“
„Es hat mich auf jeden Fall sehr gut vorbereitet. Es war zum Glück gar nicht nötig, viel zu proben, ich kannte ja alle Abläufe schon und musste nur… wie sagt man – integriert werden.“ Er winkte ab. „Reine Routine, diese Rolle ist mir schon in Fleisch und Blut übergegangen. – Ah, da vorne ist Elena, ich muss noch etwas mit ihr absprechen…“ Er nickte uns zu, einen Ausdruck tiefer Belustigung im Gesicht, und verschwand im Gedränge hinter uns.
Ich hatte diesen Wortwechsel schweigend beobachtet und darüber nachgedacht, dass ich Männern nie ein solch subtiles Ränkespiel zugetraut hätte. Beide, Alexej und Liam, hatten mit einer Gewandtheit geplaudert, dass es für Außenstehende, die nicht genau hinhörten und –sahen, wie eine angeregte Unterhaltung zwischen zwei Kollegen gewirkt haben musste.
Liam wandte sich mir zu. Ich sah ihn an. „Touché“, stellte ich fest. Er blickte in die Richtung, in die Alexej verschwunden war. „Ja“, gab er unbekümmert zu, „aber es ist ja auch erst der erste Tag… Ich schätze, wenn wir uns erst mal warmgelaufen haben, kann das sehr interessant werden.“
„Liam, bitte“, wechselte ich auf die ernste Spur, „du hast ihm doch gerade zu verstehen gegeben, was du von ihm hältst. Willst du es nicht darauf beruhen lassen?“
„Nicht nach dem letzten Kommentar“, murmelte er. „Nur noch integriert werden… ha! Nach jahrelanger Routine ist das keine Kunst. Ich werde ihm zeigen, was einen Künstler wirklich ausmacht: rasche Auffassungsgabe, Spontaneität und Anpassungsfähigkeit!“
Die hilflose Erwiderung, zu der ich ansetzte, ging in einer Durchsage unter, die erst für Ruhe sorgte und dann den weiteren Tagesplan erläuterte. So hatte ich keine Gelegenheit mehr, Liam noch einmal zu bitten, sich in dieser längst vergangenen Angelegenheit zurückzuhalten. Alexej jedenfalls hatte den Eindruck gemacht, dass ihn Liams Feindseligkeit nicht besonders bekümmerte, sondern eher amüsierte. Liams wirkliche Einstellung zu dem Thema konnte ich allerdings noch nicht richtig einschätzen…