Mich trägt mein Traum

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 12.10.2014, 22:42:51

Schade :( Es ist verdammt schade, dass Linda nicht weitermachen durfte! Ich kann auf der einen Seite ihre Eltern ja verstehen, aber soll sie ihr Leben lang einen Beruf ausüben, an dem sie keinen Spaß hat? Nein, das ist auch das ganze Geld einer gut bezahlten Arbeit nicht wert. Ich hoffe sehr, dass sie weiter an ihrem Traum festhält und ich hoffe, dass Anouk sich von diesem Rückschlag gut erholt. Bitte bald weiter, ich bin schon auf eine gewisse Erwähnung seeehr gespannt - lass mich nicht zu lange warten :)
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 13.10.2014, 14:29:45

Dann sollst du jetzt erlöst werden :)

Es gelang mir erst zwei Tage später, Linda wieder zu treffen. Mein Entschluss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, geriet immer mehr ins Wanken, und irgendwann passte ich sie ab als sie aus der Schule kam. Als sie mich im Hausflur stehen sah, wirkte sie kaum überrascht.
„Ich will nichts hören“, kam sie jedem meiner strategisch vorteilhaft zurechtgelegten Argumente zuvor. „Die Sache ist vorbei.“
Die Sache?“, wiederholte ich ungläubig. „Linda, ich dachte, wir arbeiten an deinem Traum!“
„Das dachte ich auch.“ Sie sah mich entschlossen an, dann senkte sie doch den Blick und spielte mit ihrem Haustürschlüssel. „Meine Eltern und ich haben alles besprochen. Ich… verstehe sie nun. Ich sehe ein, wie… dumm ich war. Ich werde mich ab jetzt intensiv mit anderen Jobs beschäftigen und für mein Abitur lernen. Ich werde vielleicht die Beste sein.“ Sie sah kein einziges Mal auf, während sie sprach, aber ich wusste auch so, dass jedes Wort gelogen war. Aber ich sagte nur: „Dann kann ich nichts mehr machen“ und verschwand. Denn schlimmer als sture Eltern waren nur Menschen, die sich irgendwann selbst belogen. Es tat mir in der Seele weh, Linda und mit ihr ein wundervolles Talent ruhen zu lassen, aber ehe sie nicht aufhörte, sich etwas vorzumachen, würde ich nichts bewirken können.
Auf dem Weg ins Theater wankte ich immer wieder zwischen zwei Entschlüssen: der eine ließ die ganze Angelegenheit ein für alle Mal hinter mir, der andere zwang mich, Linda zu helfen und nicht aufgegeben. Ich wollte mich nicht in Privatangelegenheiten einmischen – es würde nur Ärger geben. Und was kümmerte es mich, dass Linda nicht mehr sang? Es gab in Deutschland sicherlich Hunderte von Mädchen und Jungen, die ihr Talent vergeudeten oder gar nicht bemerkten – sei es aus finanziellen oder persönlichen Gründen. In meiner Garderobe war ich schließlich sicher, dass ich keine andere Wahl hatte – ich beschloss, nicht mehr an Linda zu denken und fühlte mich erleichtert.
Und sobald ich auf der Bühne stand, warfen sich all meine Entschlüsse wieder selbst über Bord.
Wollte ich ihr das verwehren? Dieses Fieber im Off, der kurze Moment der Erstickung, in dem die Lungen einfach vor lauter Anspannung ihren Dienst versagten, diese nervöse Atemlosigkeit, sobald es auf die Bühne ging? Und dann das Versinken… Sich loslösen von allem, was war, und für ein paar kostbare Momente jemand anders sein. Nur um sich selbst immer wieder neu zu erkennen…
Ich sollte mich nicht einmischen. Aber hätte Bertelin sich nicht eingemischt, hätte er mich nicht unter seine Fittiche genommen – wo wäre ich jetzt? Wie viel schwerer wäre ich vorangekommen?
Ja, es gab Hunderte von Mädchen und Jungen, die ihr Potenzial nicht nutzten. Aber wer war ich, dass ich Linda, die vor meiner Nase lebte, die Chance ihres Lebens nahm?

Ich focht einen schrecklichen Kampf mit mir aus. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht nach der anderen. Denn das Wissen, dass ich nicht wegsehen konnte, brachte mich nicht mehr weiter – ich stand vor einer unbezwingbaren Mauer: wie sollte ich Lindas Eltern und Linda selber überzeugen?
Ich brütete vor mich hin, wie immer in den letzten Tagen, als ich das Theater durch den Bühneneingang betrat und meine Kollegen ungewohnt laut und gemeinschaftlich vor dem Infobrett stehen sah.
„Was ist los?“, fragte ich Lukas, der mir am nächsten stand. Er wandte sich um.
„Das Theater beweist mal wieder ein unbeschreibliches Organisationstalent!“, antwortete er verärgert.
„Hä?“, machte ich. Über die Köpfe der anderen konnte ich kaum etwas sehen. Lukas deutete mit dem Daumen auf einen Aushang, den ich nicht lesen konnte.
„Mareike hat bis Freitag Urlaub.“ Mareike war die first Cast der Magda. „Ann-Sophie hat sich für heute frei genommen, weil ihre Nichte gestern geboren wurde.“ Ann-Sophie war das Zweitcover Magda. Ich ahnte schon, was folgen würde.
„Und Alessa?“, fragte ich ruhig nach dem ersten Cover.
„Alessa hatte einen Unfall, gerade eben. Beinbruch. Wir haben keine Magda.“
„Können wir nicht einen Ersatz einfliegen lassen?“, fragte ich, „wie damals, als wir keinen Grafen hatten?“ Wie peinlich, dass so etwas schon wieder passierte! Lukas zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ob das klappt. Emmanuel hängt seit Ewigkeiten am Telefon. Aber der Ausfall ist so kurzfristig, dass er kaum jemanden findet. Wir könnten höchstens jemanden aus dem Ensemble nehmen, aber wer kann schon Magdas Text so gut?“ Er seufzte. „Ich glaube, Emmanuel würde jeden nehmen, der sich anbietet.“
Ich starrte ihn an, und plötzlich überschlugen sich die Infos und Ideen in meinem Kopf.
„Ich kenne jemanden!“, flüsterte ich.
„Was?“, fragte er müde. Aber ich antwortete nicht.
„Wo ist Emmanuel?“, rief ich, während ich schon den Gang hinunter lief.
„Äh – irgendwo in der Maske?“
Ich rannte durch die Gänge, in die Maske. Wurde zur Bühne geschickt. Atemlos raste ich durch den Backstage-Bereich und kam schlitternd auf der dämmrigen Bühne zu stehen. Emmanuel telefonierte. Ich winkte ihm mit hektischen Bewegungen zu, und er sah mich irritiert an und wandte sich ab. Ich seufzte laut und ging auf ihn zu.
„Ich habe einen Ersatz!“, flüsterte ich ihm zu. Er starrte mich an, ehe er sagte: „Warte kurz, Mark, ich glaube, wir haben das Problem schon gelöst…“ Er nahm den Hörer vom Ohr und hielt die Hand über den Lautsprecher.
„Wen?“, fragte er gedämpft, und angesichts der Hoffnung in seinen Augen war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das richtige tat.
„Ein Mädchen, das ich unterrichtet habe!“, antwortete ich dann kühn. „Sie war sogar hier beim Workshop, sie-“
„Eine Auszubildende?“, unterbrach er mich ungläubig.
„Na ja, eigentlich… nein. Sie hat bisher nur Gesangsunterricht bekommen. – Aber sie ist große klasse! Frag Johanna!“
Emmanuel sah mich hin und her gerissen an. „Anouk, das ist lieb gemeint, aber… Ich weiß nicht, ob das möglich ist. So etwas ist sehr… ungewöhnlich.“
„Aber es ist schon einmal passiert!“, rief ich, denn glücklicherweise fiel mir in diesem Augenblick eine ähnliche Begebenheit ein. „Norina Bauer, sie hat in Essen die Constanze in Mozart! gespielt, ohne jegliche Ausbildung! Sie ist eingesprungen, weil es ähnlich war wie bei uns heute: sie waren zu knapp besetzt! Komm schon!“ Ich flehte ihn fast an. „Bitte, Emmanuel! Das würde ihr helfen – und uns natürlich!“
Er sah mich eine gefühlte Ewigkeit lang an und nagte unentschlossen an seiner Unterlippe. Dann seufzte er. „Also gut. Dann sorg dafür, dass dieses Mädchen hierher kommt, und zwar so schnell wie möglich!“

Glücklicherweise hatte ich Lindas Telefonnummer noch eingespeichert. Ich flehte zum Himmel, sie möge selbst drangehen, und tatsächlich tat sie das.
„Linda!“, platzte ich heraus, noch ehe sie ihren Nachnamen ausgesprochen hatte. „Wir brauchen deine Hilfe!“
„Meine Hilfe?“, wiederholte sie irritiert.
„Ja. Du musst für eine Darstellerin einspringen.“
„Ich muss was?“, fragte sie entsetzt. „Für jemanden im Ensemble?“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte, und wandte dem Ensemble, das mich erwartungsvoll beobachtete, den Rücken zu. „Du musst die Magda spielen!“
Es blieb eine Weile lang still, aber ich konnte sie atmen hören. Dann erwiderte sie langsam: „Anouk, ich glaube nicht, dass ich die richtige dafür bin.“
„Doch, Linda, bist du! Ich weiß, dass du einen Großteil des Textes kannst!“
„Aber die Choreographien…“
„Wir haben noch ein wenig Zeit, um dir die wichtigsten Dinge beizubringen!“
„Ist das überhaupt erlaubt?“
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, auch wenn ich am liebsten geschrien hätte vor lauter Aufregung. „Ja, ist es. Ich habe unseren Regisseur von dir überzeugen können.“
Wieder schwieg sie nervenzerreißend lange. „Okay“, sate sie schließlich und stieß hörbar den Atem aus, „ich mach’s.“
Ich atmete erleichtert auf. „Linda, ich weiß nicht, was ich sagen soll…“
„Sag mir am besten, wie ich schnellstmöglich zu euch komme“, erwiderte sie trocken, „hier ist der Bus nämlich gerade weg.“

Wir jagten wie die Irren durch die Stadt, das heißt, Emmanuel saß am Steuer und manövrierte seinen Wagen durch den Abendverkehr. Mehrere Male musste ich mich regelrecht am Sitz festkrallen, und in den Kurven hatte ich mehr als einmal das Gefühl, nur noch auf zwei Rädern zu fahren.
Die Show würde um acht Uhr beginnen – wir hatten kurz nach sechs. Ein Glück, dass wir immer früh ins Theater kamen! Emmanuel stellte seinen Wagen krumm und schief in einer Parklücke ab, wir stiegen aus und sprinteten durch das Treppenhaus. Zwei Sekunden nach dem Klingeln öffnete sich die Türe, und Linda sah mir entgegen. Mir roten Wangen und panischem Blick, aber fertig angezogen.
„Linda, danke, danke tausendmal!“, begrüßte ich sie. „Das hier ist Emmanuel, unser Regisseur!“ Die beiden reichten sich die Hand – Emmanuel sah aus wie ein gerupftes Huhn, weil er sich vor lauter Ärger ständig durch die Haare fuhr. Linda trat auf uns zu.
„Okay“, sagte sie atemlos, „ich bin so weit.“
„So weit wofür?“, erwiderte eine fassungslose Stimme. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Lindas Eltern waren.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon bogi-2000 » 13.10.2014, 18:58:07

Wow, finde ich super, daß du die andere Geschichte aufgreifst und mit einfließen lässt. Ich lese übrigens auch regelmäßig mit und freue mich über jeden neuen Teil. Bitte bald weiter!!!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 13.10.2014, 21:41:56

Ja, endlich die erwartete Erwähnung *g* Ja, bei Nora war es so ähnlich, wobei sie durch Leon ja bei den Proben dabei war. Ich bin mir nicht sicher, ob Linda so gut in der Rolle ist, um das wirklich zu schaffen, aber ich hoffe sehr, dass die Show stattfinden kann! Und ich kann es dir nochmals sagen, dass ich mich geehrt fühle, dass du meine Story aufgreifst. Nora scheint sich ja dann einen guten Namen gemacht zu haben, wenn Anouk darüber Bescheid weiß :)
Du verstehst es, an spannenden Stellen aufzuhören - ich bin gespannt, ob Lindas Eltern dieses Mal zustimmen!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Dori » 13.10.2014, 22:07:24

Sehr cool, dass die beiden Geschichten hier kurz zusammen kommen! :)
Auch die ganze Idee mit Linda finde ich gut. Ich kann auch ihre Eltern verstehen, der Job auf der Bühne ist nun mal nicht einfach. Aber vielleicht kommt jetzt der Umschwung...

Ich finde aber auch, dass Anouk sich zwischendurch auch mal mit anderen Freunden/Kollegen treffen könnte, ihre Freizeit ist momentan etwas einseitig. ;)

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 14.10.2014, 15:35:10

Hey, viele nette Kommentare, das freut mich :) Und danke noch mal an Gaefa, dass ich auf deine Geschichte zurückgreifen konnte.
@Dori Ich werde versuchen, sie demnächst mal wieder etwas unternehmen zu lassen, danke auch für diese Kritik

Wir standen uns einige atemlose Herzschläge lang gegenüber wie zwei verfeindete Indianerstämme, Linda in unserer Mitte. Und den halb verwirrten, halb entrüsteten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Eltern konnte ich diesmal gut nachvollziehen; immerhin war Linda in Begleitung von ihrer verbotenen Gesangslehrerin und eines fremden Mannes Mitte vierzig, was für Eltern immer bedenklich ist. Lindas Vater sah sie an und ergriff wieder das Wort.
„Linda, wo willst du hin?“
„Ich…“ Sie sah sich kurz nach mir um und wich seinem Blick aus. „Ich gehe ins Theater.“
„Nicht schon wieder“, murmelte ihre Mutter im Hintergrund. „Linda, ich dachte, wir hätten das besprochen.“ Ihre Stimme klang sanft, enttäuscht und zurückhaltend. Linda schwieg.
„Frau Savari, es tut mir leid, dass das alles ein wenig überstürzt passiert“, sagte Emmanuel, der ja das ganze Dilemma gar nicht kannte. Das fiel mir siedendheiß ein. Er wird mich auseinandernehmen!, schoss es mir durch den Kopf. In Zukunft werde ich nicht mehr im Ensemble spielen, sondern eine [i]echte Leiche in der Gruft darstellen! [/i]
„Aber meine Darstellerin hier“, er stieß mich kurz an, „hat mir Ihre Tochter wärmstens empfohlen. Sie wird heute eine der vier Hauptrollen spielen!“, strahlte er, und zu allem Überfluss zog er auch noch die zwei Feikarten aus der Jackentasche, die er als Belohnung für die Eltern mitgebracht hatte. Mir wurde unangenehm warm – gleich würde herauskommen, dass ich gegen die Eltern arbeitete – und die Show endgültig ins Wasser fallen!
„Was reden Sie da?“, fragte Herr Savari. „Ich habe meiner Tochter ausdrücklich verboten… Linda, wohin willst du?“ Er stellte sich seiner Tochter in den Weg, die sich ihren Weg an ihm vorbei bahnen wollte. Sie senkte kurz den Blick, und ich sackte enttäuscht in mir zusammen, da hob sie plötzlich den Kopf und sah ihm fest in die Augen.
„Ich gehe ins Theater, Papa“, sagte sie, und ihre Stimme war laut und selbstsicher. „Ich werde heute Abend singen, vor Publikum, in einem berühmten Musical. Ich werde nicht das Leben führen, das du verpasst hast, nur damit es dir besser geht!“ Sie wandte den Blick an ihre Mutter. „Das ist mir wichtig, Mama. Das Singen. Wenn ich es nicht tue… bin ich nicht ich. Und wenn ihr nicht wollt, dass ich damit weitermachen will, dann seit ihr mich los. Für immer.“ Sie schob die beiden unsanft zur Seite, und diesmal ließen ihre Eltern sie stumm passieren. Emmanuel bemerkte nun auch, dass ich ihm irgendetwas verschwiegen hatte, aber bevor noch etwas passieren konnte packte er mich an den Schultern und schob mich vor sich her.
„Kommen Sie vorbei!“, rief er den Eheleuten Savari freundlich zu. „Es lohnt sich! Ihre Tochter wird spitze sein! Vielen Dank noch mal!“ Er bugsierte mich aus meinem eigenen Haus und schloss zu Linda auf. Gemeinsam stiegen wir in sein Auto.
„Das wirst du mir noch genau erklären!“, sagte er drohend zu mir, während er den Motor anließ und ebenso ungenau ausparkte, wie er eben eingeparkt hatte. „Von solchen Problemen war nie die Rede!“
Ich schluckte, verschob meine Unsicherheit aber auf später – erstens fuhr er schon wieder wie ein Irrer und zweitens musste ich mich um Linda kümmern. Ich zog die Liedtexte, die ich mitgebracht hatte, aus der Tasche und drehte mich nach hinten. Linda saß ein wenig verloren auf der Rückbank.
„Hier“, sagte ich und reichte ihr die Blätter. „Deine Texte. Schau sie dir an, wir werden gleich alles durchgehen.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr – es war bereits nach halb sieben. Viel Zeit würde sie bestimmt nicht mehr haben!
Zwanzig Minuten und zwei beinahe-Zusammentsöße später erreichten wir das Theater. Der Trubel und die Hektik, die heute noch ausgeprägter war, schüchterne meine Schülerin sichtlich ein, aber darauf konnte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Ich schleppte sie zu meiner Ankleidern, und in Rekordzeit schlüpfte ich in mein Kostüm.
„Linda, ich muss jetzt in die Maske“, wandte ich mich etwas atemlos an sie. Als ich bemerkte, dass sie den Tränen nahe war, schaltete ich aber einen Gang zurück und nahm sie kurz in den Arm.
„Alles wird gut gehen“, sagte ich. „Draußen wird ein Zettel ausliegen, auf dem die Situation beschrieben ist. Wenn dir ein Fehler passiert, wird das halb so wild sein! Ich glaube fest dran, dass du das schaffst!“
Sie nickte nur überfordert.
„In meiner Garderobe kannst du dich gleich einsingen“, fuhr ich fort, „irgendwo liegt eine Tanz der Vampire-Aufnahme, dann kannst du sogar die entsprechenden Lieder durchgehen!“
Sie sah nicht sehr ermutigt aus, aber sie nickte, und widerstrebend zog ich mich in die Maske zurück.

Niemand wusste, ob Lindas Eltern kamen, und vielleicht war es auch besser so: Linda war unter der roten Perücke noch blasser als zuvor. Als die Overture begann, brach sie kurz in nervöse Tränen aus.
„Alles okay, Linda!“, sagte sich und drückte sie fest an mich.
„Ich habe alles vergessen!“, flüsterte sie mir bei He, ho, he zu. „Wo muss ich hin?“
„Ich werde dich herumkommandieren!“, kam Anne, die Rebecca spielte, mir zuvor. „Ich werde dich hierhin und dahin scheuchen, du schaust mich dann immer ein bisschen empört an. Okay?“
Zum ersten Mal wirkte Linda ein wenig erleichtert. „Okay“, stimmte sie zu und hielt sich von da an überwiegend an Anne. Ich schaute aus dem Off zu, während die Szene lief, bis Daniel mich zurückzog.
„Wenn du den Vorhang noch weiter zur Seite ziehst, spart das Publikum sich die Backsage-Führung!“, mahnte er mich.
Bei Nie geseh’n war Linda schon viel sicherer, aber bei Tot zu sein ist komisch vergaß sie dann doch den Text des zweiten Refrains, und nach einer unangenehmen, aber kurzen Unterbrechung im Lied wiederholte sie einfach noch mal die erste Fassung. Und damit war ihr Job für den ersten Akt auch schon erledigt.
Ich bekam mit, wie meine Kollegen sie beglückwünschten, ihr dankten und haufenweise gute – oder auch nicht so gute – Ratschläge für den zweiten Akt gaben. Unser Chagall musste sie fast gewaltsam aus der Menge schaffen, um noch einmal ihren gemeinsamen Part In der Gruft durchzugehen. In dieser Szene war schließlich auch deutlich zu hören, dass Linda keine ausgebildete Schauspielerin war: das Kichern und Kokettieren, das Magda in dieser Szene zu eigen war, kam ein wenig beschämt und leise herüber, aber alles in Allem konnte man sich nicht beschweren: es war immer noch besser, als die Show abzusagen. Und es war deutlich zu sehen, dass Linda auf der Bühne Spaß hatte. Nach der Vorstellung wurde ihr Einsatz noch einmal extra erwähnt, und sie nahm schüchtern lächelnd, aber sichtlich stolz und erledigt den Applaus entgegen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 14.10.2014, 16:09:05

Sehr schön, dass sie sich endlich durchsetzt! Allerdings möchte ich bezweifeln, dass man innerhalb von weniger als zwei Stunden einfach so einspringen kann. Bei Nora fand ich es schon kritisch, aber ich hab ihr ja immerhin Bühnenproben gestattet als Vorbereitung. Dennoch ein schöner Teil! Wird morgen wieder das eine Cover spielen, deren Nichte geboren wurde oder muss Linda für mehr als eine Show aushelfen? Und was sagen ihre Eltern dazu? Ich bin gespannt, wie es weitergeht!

Mal eine allgemeine Frage: Hast du eigentlich gezählt, wie viele Teile du schon geschrieben / gepostet hast? Ich bin nach wie vor von der Regelmäßigkeit und der Menge, die du produzierst, beeindruckt! Hut ab!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 14.10.2014, 16:50:47

Ich muss mich entschuldigen, ich war ein paar Wochen nicht online. Die neue Entwicklung gefällt mir sehr gut, und ich lese gerade alles hintereinander durch mit zunehmender Spannung. Kompliment!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 16.10.2014, 16:07:24

Wie viele Teile ich habe, weiß ich gar nicht, mein Word-Dokument zählt aber knapp 200 Seiten.
@armandine: schön, dass du auch noch dabei bist! :)
Jetzt geht's weiter, nicht minder spannend!

Ich wartete auf Linda, die einige Zeit von meinen Kollegen eingenommen wurde, und gemeinsam verließen wir das Theater durch die Bühnentür. Linda war ein wenig verschreckt und reichlich verwundert durch Autogrammwünsche, die auch an sie gerichtet waren. Aber ihre Aufmerksamkeit wurde rasch von etwas anderem abgelenkt: in einiger Entfernung, die Hände in den Jackentaschen vergraben und offensichtlich reichlich unsicher, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollten, warteten Lindas Eltern. Ich spürte, wie Linda neben mir tief einatmete.
„Anscheinend haben sie die Show gesehen“, murmelte sie mir zu. Ich nickte. Ja – die Eheleute Savari waren verhältnismäßig schick gekleidet.
„Ich denke, da wartet wieder eine Aussprache“, sprach ich das unvermeidliche aus, und gemeinsam gingen wir auf Lindas Eltern zu. Ich musterte sie rasch und genau; sie schienen nicht wütend oder ablehnend wie in der Vergangenheit; vielmehr lag in ihren Augen ein unterdrückter Glanz und Herr Savaris Mundwinkel zuckten die ganze Zeit – er sah ein wenig aus wie meine Mutter, wenn sie krampfhaft versuchte, nicht zu lächeln. Linda und ich blieben vor den beiden stehen, und ich hielt ihnen die Hand hin, um die Situation zu lockern.
„Guten Abend“, sagte ich und streute eine ordentliche Ladung Zerknirschtheit in meinen Ton, um sie für den Fall der Fälle zu besänftigen. „Ich sehe, sie haben die Show besucht?“
„Ja“, erwiderte Herr Savari und erwiderte meinen Handschlag tatsächlich etwas zögerlich, „ja, das haben wir.“ Er sah kurz zwischen uns hin und her, räusperte sich und zupfte sich am Ohrläppchen, ehe er seine Tochter direkt ansah.
„Das war sehr… Wir hatten viel Spaß. Es war eine gute Show.“ Seine Augen huschten wieder zu mir.
„Danke“, sagte ich trocken. Er räusperte sich abermals.
„Tja“, fuhr er fort, und es entstand eine unangenehme Stille. Dann: „Linda, du warst auch ganz toll. Wir… sind sehr stolz um dich.“
Daraufhin brach Lindas Mutter in Tränen aus und zog ihre Tochter an sich. „Linda, du warst so wunderbar! Wir sind sehr stolz auf dich!“, sagte sie. Ich fühlte mich selbst an vergangene Auftritte erinnert und war ganz gerührt. Auch Lindas Vater drückte sie an sich, ehe er sich wieder mir zuwandte und einen hellen, etwas geknickten Briefumschlag hinhielt.
„Das ist für Sie“, sagte er und drückte ihn mir in die Hand. Ich strich das Papier glatt.
„Es ist sicherlich nicht so viel, wie Sie eigentlich verdient hätten, aber… Wir wussten nicht, wie wir Ihnen sonst danken sollten.“
Ich sah eine Weile auf den Umschlag, spürte den Stapel Scheine, der das Papier wölbte. Dann reichte ich ihn wieder zurück. „Ich glaube nicht, dass ich das brauche“, erwiderte ich, auch wenn das glatt gelogen war: ein bisschen Geld nebenbei täte meinem Konto tatsächlich ganz gut. Aber das spielte keine Rolle. „Sie danken mir am besten, wenn Sie mir erlauben, Ihre Tochter weiter zu unterrichten.“ Ich sah Linda kurz an. „Falls sie das noch will.“
Linda schürzte die Lippen. „Eigentlich… schon. Ja“, antwortete sie zögernd. Und zu unser aller Überraschung nickte Frau Savari.
„Okay“, sagte sie schlicht. Linda starrte sie an.
„Okay?“, wiederholte sie.
„Was deine Mutter – und ich – dir sagen wollen“, erklärte Herr Savari, „ist, dass du… Recht haben könntest mit dem, was du gesagt hast. Also, im Treppenhaus. Eben, oder besser, vor ein paar Stunden… Ist ja egal. Jedenfalls – wenn du es so willst, dann… dann sollst du eben dein Ding machen.“
„Mein Ding?“ Linda sah ihn fragend an, aber ich konnte das Lachen in ihren Augen sehen.
„Na, diesen Musical-Kram. Eine Darstellerin werden.“
Linda begann kurz zu lachen, weil ihr Vater sich so ungeschickt ausdrückte, fing sich aber wieder schnell und verschränkte verlegen die Arme hinter dem Rücken.
„Danke“, sagte sie leise. Herr Savari legte einen Arm um sie und sah mich an.
„Also, Frau Steger, wenn Sie unser Geld schon nicht wollen… Kann ich Sie dann wenigstens zu einem sehr späten Abendessen einladen?“

Die Savaris fanden eine kleine Bar, die noch aufhatte, und wir verbrachten tatsächlich noch einen schönen Abend. Jetzt, wo ihre Tochter ernsthaft darüber nachdachte, Musicaldarstellerin zu werden, wollten sie alles von mir wissen: mein Werdegang, meine Erlebnisse mit der Schule, der Schwierigkeitsgrad der Lernstoffe, die Aussichten auf dem Markt, meine Arbeitserfahrungen… Ich antwortete ihnen, so gut ich konnte, und Linda ermahne ihre Eltern mehr als einmal, wenn die Fragen exakter gestellt waren als ich antworten konnte. Aber es machte die Savaris nur sympathischer für mich; es war nett mitanzusehen, wie Herr Savari während der Unterhaltung immer mehr aufblühte. Manchmal stieß er seine Tochter an und sagte: „Na, das wäre was, oder?“, oder „Wow, klasse, das würde mich auch interessieren!“
Wir kamen erst spät am Abend zurück, und ich versprach, sofort am nächsten Morgen in Erfahrung zu bringen, ob wir eine neue Magda hatten.
Hatten wir. Ann-Sophie hatte sich ja nur einen Tag freigenommen und begrüßte uns mit einer Unmenge von Entschuldigungen: „Hätte ich gewusst, dass alles so schief laufen würde… Ich hätte mir nicht freigenommen!“
„Aber es ist ja gar nichts schiefgelaufen!“, trösteten wir sie. „Wir hatten doch einen Ersatz!“
Eine nicht ausgebildete Darstellerin schien in ihren Augen trotzdem ein kleines Desaster zu sein, und sie beruhigte sich erst wieder, als sie endlich auf der Bühne stand. Linda wankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung, als ich ihr mitteilte, dass sie die Magda nicht mehr spielen würde, aber sie freute sich umso mehr über das Video, dass das Theater ihr zukommen ließ: irgendeine barmherzige Seele hatte ihren mehr oder weniger improvisierten Einsatz mitgefilmt, und so war sie im Besitz einer wertvollen und äußert seltenen Gesamtaufnahme von Tanz der Vampire. „Also, enn wir noch mal Ersatz brauchen, weiß ich ja, wo ich anrufen kann“, sagte ich scherzhaft.
„Aber das nächste Mal vielleicht etwas früher, ja?“, erwiderte sie lachend.

Am nächsten Montag beschloss ich, meine spielfreie Zeit auszunutzen und mir einen schönen Weiber-Nachmittag mit Sarah zu machen: ich wusste, dass sie in den Proben für Romeo und Julia steckte, aber vielleicht hatte sie ja ein wenig Zeit für mich. Aber gerade, als ich mein Handy in die Hand nahm, bimmelte es los. Es war eine Nachricht von Emmanuel. Hallo Anouk! Ich habe vergessen, dir Bescheid zu geben, dass wir etwas wichtiges besprechen müssen. Ich hoffe, du hast kurzfristig Zeit, dich mit mir im Roma zu treffen? Emmanuel.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und schrieb zurück, ich könne in einer Stunde da sein. Dabei durchfuhr es mich abwechselnd heiß und kalt: was konnte Emmanuel wollen? Etwas „geschäftliches“ ganz sicher, aber was? Musste ich das Ensemble verlassen? Gab es ein Problem, von dem ich nichts wusste? Ging es um meine Rollen? Hatte den Leuten Lindas Einsatz nicht gefallen, sodass sie nun mich, die dafür verantwortliche, rausschmeißen wollten? Ich fuhr gedankenverloren in die Stadt. Als ich endlich im Café ankam, befiel mich eine schreckliche Nervosität.
Emmanuel war schon da. Auf sein Drängen bestellte ich mir wenigstens etwas zu trinken. Während ich auf meine Bestellung wartete, kramte er unermüdlich in seiner Tasche. Ich sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, auch wenn es eisig kalt war. Ich hoffte, die Kälte würde nicht doch noch auf mein Immunsystem übergreifen und mir eine weitere saftige Erkältung bescheren; aber bisher ging es meiner Gesundheit blendend.
„Also“, begann Emmanuel und räusperte sich, und ich sah ihn gespannt an. „Ich dachte, wir regeln das hier nicht zwischen den Shows, sondern ganz in Ruhe.“ Er zog einen Stapel Papier aus seiner Tasche, eine Unzahl an Blättern, die teilweise ziemlich lädiert aus ihrer Klarsichthülle rutschten. Obenauf konnte ich meinen Vertrag erkennen, und wieder durchfuhr mich ein ängstlicher Schreck…

Anm.: Gerade fällt mir ein, dass der nächste Teil erst am Sonntag kommt, weil ich ja ab Morgen in Paris bin... Angenehmes Warten wünsche ich :lol:
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 16.10.2014, 21:07:05

Ein sehr schöner Teil! Ich freue mich sehr, dass Linda Eltern die Show gesehen haben und sich ihre Meinung geändert hat. Ich bin gespannt, welchen Weg Linda noch einschlagen wird. Und was Emmanuel von Anouk will, kann man sich doch denken oder? Schließlich wird ihre Traumrolle frei - hast du ein paar Teile zuvor geschrieben - und dann ist es für mich nur logisch, dass ihr Vertrag ganz oben auf liegt, denn ich würde behaupten, dass er geändert wird ;) Gemein uns an der Stelle länger auf die Folter zu spannen - aber dir ganz viel Spaß in Paris und bei den Vampiren!!

Mh, 200 Seiten ist recht relativ. Ich hab "erst" 108 Seiten, aber darauf stehen knapp 98.000 Wörter ;) Wenn ich die Schriftgröße verändere, sind es auch 1,5 mal so viele Seiten^^ Aber den größten Respekt für so viel in solch kurzer Zeit :handgestures-thumbupright:
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 18.10.2014, 10:48:58

Ah, ein schöner Teil. Viel Spaß in Paris!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 19.10.2014, 14:53:01

@Gaefa: 111.918 Wörter hab ich.
@armandine: danke, es war super :sonnig:
Und jetzt weiter - Gaefa hat natürlich schon durchschaut, was da passiert.

Emmanuel schob die Unterlagen ineinander und pflückte einige Blätter heraus. Als er mich ansah, runzelte er die Stirn.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er. Ich schluckte und zwang mich, den Blick von meinem Vertrag zu lösen. „Klar“, antwortete ich, aber meine Stimme klang dünn. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Er sah mich noch ein paar Sekunden lang skeptisch an, dann widmete er sich wieder seinem Chaos. Als der Kellner meinen Kaffee brachte, nahm ich nur einen Schluck, um mich abzulenken, aber meine Finger zitterten, und ich schob sie wütend unter meine Beine. Was war nur los? Emmanuel würde mich sicher nicht entlassen, nur weil ich Linda hatte covern lassen. Er hätte ja immer noch nein sagen können! Trotzdem… Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was es zu besprechen gäbe.
„Also“, begann Emmanuel, als er alles beisammen hatte, „es tut mir leid, dass das so kurzfristig kam, aber ich hatte ziemlich viel Stress in letzter Zeit. Ich hätte dich gerne mehr darauf vorbereitet, aber-“
„Du kündigst mir, richtig?“, fiel ich ihm ins Wort, weil ich die Spannung einfach nicht länger ertragen konnte. „Ist es wegen Linda? Oder bin ich nicht gut genug?“
Er starrte mich verständnislos an. „Kündigen?“, wiederholte er verdattert. „Warum sollte ich dich kündigen?“
Ich schwieg kurz und lauschte auf mein Herz, dass immer noch viel zu schnell schlug. Aber die Erleichterung war so befreiend, dass ich mich ein wenig besser fühlte.
„Oh“, erwiderte ich. „Das ist… das ist gut.“
Er schüttelte den Kopf und lachte auf. „Wie kommst du nur auf solche Gedanken, Anouk? Nein, hier geht es um etwas ganz anderes.“ Er stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und sah mich erwartungsvoll an. Gespannt sah ich zurück und sah zu, wie seine Gesichtszüge sich langsam verdunkelten.
„Du hast keine Ahnung, worum es hier geht, oder?“, stellte er dann fest.
„Nein“, antwortete ich gedehnt, „aber vielleicht sagst du’s mir endlich?“
Er grinste. „Na gut. Und vielleicht mache ich es angesichts deiner Aufregung sogar kurz und bündig:“ Er klopfte mit einem schmalen, getackerten Papierbündel auf den Tisch. „Felix und Sofias Verträge laufen im Juni aus, und beide haben schon neue Engagements in Aussicht. Daher frage ich dich nun feierlich bei“, er warf einen kurzen Blick auf unser spärliches Menü, „Wasser und Kaffee: willst du die weibliche Hauptrolle übernehmen?“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Sarah?“, platzte ich heraus, und er verdrehte leicht die Augen.
Ja“, antwortete er langsam, „Sarah, die weibliche Hauptrolle.“
Ich war kurz sprachlos. Dieser Moment!, dachte ich. Halte kurz inne, denn hier ist alles, was du je wolltest!
Dann sagte ich schlicht: „Ja.“
Emmanuel lächelte zufrieden. „Sehr schön. Wir werden das alles ganz einfach abwickeln, deine Agentin sollte dich demnächst noch anrufen, und dann müssen auch nur diese zehntausend Seiten unterschrieben werden.“
Die Verträge waren mir egal; eine andere Frage brannte mir schon auf der Zunge.
„Wer wird den Grafen spielen?“
Er hob leicht die Schultern. „Wir sehen uns noch um.“
Ich verkniff mir ein Grinsen. „Gut“, erwiderte ich, aber auf seinen fragenden Blick hin entgegnete ich nichts.

Ich war kaum zur Türe rein, als ich auch schon nach dem Telefon griff. Dann aber wusste ich gar nicht, wen ich zuerst anrufen sollte, und schließlich fiel die Wahl auf meine Mutter.
„Ich dachte schon, du hättest unsere Erde verlassen“, begrüßte sie mich trocken.
„Tut mir leid“, erwiderte ich, „aber ich habe hier ziemlich viel um die Ohren gehabt.“ Ich berichtete ihr von Linda, und das dauerte eine Weile. Sie lobte mein Engagement und bestärkte mich darin, Mrs. Paiges Angebot anzunehmen: „Anouk, stell dir vor, du könntest andere unterrichten!“, sagte sie. Im Hintergrund hörte ich das Zischen unseres alten Bügeleisen und sah sie sofort vor meinem inneren Auge, wie sie wie so oft am Bügelbrett stand, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. „Ich stelle mir das spannend vor! Übrigens, kennst du noch…“ Sie erging sich in diversen Klatschgeschichten unserer Familie, die ich verpasst hatte, und als ich mich von ihr verabschiedete, fühlte ich mich viel besser. Und stöhnte laut auf: ich hatte ganz vergessen, warum ich sie angerufen hatte! Erneut wählte ich die Nummer.
„Steger?“
„Äh – ich wieder“, sagte ich. „Ich hatte vergessen, dir etwas wichtiges zu sagen!“
„Ach ja?“, erwiderte sie. „Na, so wichtig kann’s ja dann doch nicht gewesen sein.“
Ich wurde knallrot, obwohl sie mich ja gar nicht sehen konnte. „Eigentlich doch! Ich werde ab Juni die Sarah spielen.“
Sie schwieg kurz, dann lachte sie auf. „Wie konntest du denn das vergessen?“
„Ich… war wahrscheinlich so aufgeregt!“, entgegnete ich.
Sie beglückwünschte mich tausend Mal, ehe ich endlich Liam anrufen konnte. Und in meinem Magen ballte sich ein aufgeregter Knoten zusammen. Er ging sogar sofort ans Telefon.
„Liam, du errätst nicht, was ich gerade erfahren habe!“, platzte ich heraus, noch ehe er mehr als „Hallo“ sagen konnte.
„Hm, dass ich dich liebe, solltest du schon länger begriffen haben“, sinnierte er. „Also keine Ahnung.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich werde die Sarah ab Juni spielen!“
„Ehrlich? Herzlichen Glückwunsch!“, sagte er aufrichtig erfreut. „Wird es auch einen neuen Grafen geben?“
„Darüber wollte ich mit dir reden.“ Ich setzte mich aufs Sofa und blätterte durch das Vampire-Programmheft. „Du könntest dich ja bewerben, falls es eine Audition gibt!“
Zu meiner Überraschung lachte er auf, ein tiefes, fast brummiges Lachen, das ich, wie ich merkte, sehr vermisste. „Hast du vergessen, dass ich hier spiele?“, sagte er. „Ich bin das Phantom! Ich kann meinen Vertrag nicht einfach so hinschmeißen. Außerdem… fühle ich mich hier sehr wohl!“
Seine Erklärung hatte für mich plausibel geklungen – bis zum letzten Satz. Er verletzte mich. Er klang in meinen Ohren wie „Ich will nicht mal darüber [i]nachdenken, mit dir zu spielen.“[/i]
Liam musste bemerkt haben, dass ich seine Worte falsch aufgefasst hatte.
„Anouk, du weißt doch, dass ich das gerne tun würde“, sagte er. „Aber ich kann auch hier nicht alles für eine Eventualität aufgeben!“
„Ich weiß“, erwiderte ich zerknirscht – ich war wütend auf mich selber. „Tut mir leid. Sehen wir uns an den Ostertagen?“
„Wie abgesprochen. Ich hole dich am Bahnhof ab.“
Mein Magen begann zu kribbeln – ich hatte eindeutig Fledermäuse im Bauch. „Okay“, grinste ich. „Bis dann. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, sagte er nachdrücklich, ehe wir auflegten. Anschließend rief ich Sarah an, sagte ihr aber nicht, worum es ging, sondern lud sie zu Tanz der Vampire ein – nächsten Dienstag, wenn Sofia fünf Tage Urlaub haben und ich covern würde. Sie sagte zu und ich konnte es schon kaum mehr abwarten.
Was ich rette, geht zu Grund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 19.10.2014, 17:08:15

ohoh - deuten sich hier auch Beziehungsprobleme an? Denn schließlich kann man selbstverständlich wenigstens ein Audition machen, auch wenn man noch unter Vertrag steht, und innerhalb derselben Firma sowieso. Aber für Annouk ist es natürlich toll. Vielleicht sehen wir ja auch Marius wieder als Graf?
Zuletzt geändert von armandine am 19.10.2014, 18:57:18, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 19.10.2014, 17:34:07

Schöner neuer Teil! Und fein, dass ich recht hatte :) Über Marius als Graf würd ich mich auch freuen. Ehrlich gesagt, sehe ich auch nicht, dass die Beziehung der beiden wirklich gute Überlebenschancen hat, sie sehen sie ja kaum... Nicht mal am Montag / Dienstag wenn spielfrei ist... Ich würd solche langen Trennungen nicht aushalten (wollen)...
Nochmals Hut ab für diese Produktivität!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 21.10.2014, 17:54:20

Ob Marius den Grafen spielt? - Die gleiche Frage stellt sich im neuen (ein wenig kürzeren) Teil. Viel Spaß!

Der Dienstag kroch so unglaublich langsam heran, dass ich beinahe verrückt wurde. Ich lud auch Linda und ihre Familie ein, aber sie wollten lieber bis zum Castwechsel warten, um in der Zeit zu sparen und sich gute Plätze leisten zu können. Ich hatte sie in mein Geheimnis eingeweiht, nachdem ich zu dem Entschluss gekommen war, dass ich ihnen voll und ganz vertrauen konnte. Denn momentan waren die Savaris tatsächlich meine einzigen außer-musicalischen Ansprechpartner in nächster Nähe, wie ich erst vor kurzem ein wenig bedrückt festgestellt hatte. Ich vermisste Liam schrecklich; auch bis zu unserem Wiedersehen an Ostern zählte ich die Tage und das nicht ohne Angst: wie weit hatten wir uns bereits voneinander entfremdet? Oder würde alles so sein wie immer? Zum Glück bot mir die Arbeit eine gute Abwechslung; jetzt, da ich in der Rollenhierarchie kurz vor meinem ersehnten Aufstieg stand, legte ich mich besonders ins Zeug: meinem Vampir hauchte ich in gewissem Sinne neues Leben ein, indem ich mein Auftreten ein wenig veränderte, und Sofia war meiner Bitte, mit ihr schon einmal einige Passagen der Sarah gemeinsam durchzugehen, nicht abgeneigt. So fühlte ich mich für meine Coverwoche mehr als gut vorbereitet. Gut gelaunt trat ich meinen Dienst als Sternkind an.
„Na, hast du schon die große Neuigkeit gehört?“, wurde ich von Felix begrüßt, als ich in der Maske vorbei schaute.
„Neuigkeit? Nicht wirklich“, erwiderte ich.
„Offenbar haben wir schon einen neuen Grafen gefunden“, klärte er mich auf.
„Was? Aber es war doch noch gar keine Audition – oder?“
Er schüttelte minimal den Kopf, um nicht beim Schminken zu stören. „Ich glaube, alles soll sehr schnell geregelt werden. Anscheinend haben sie schon länger jemanden ins Auge gefasst.“
„Und wer?“, fragte ich, unsicher, was ich davon halten sollte – war es denn gerecht? Zu meiner Enttäuschung hob Felix die Schultern.
„Mehr habe ich auch nicht mitbekommen. Die Intendanten und Regisseure und überhaupt alle sind kryptisch wie immer. – Wie geht es dir heute? Bist du bereit?“
„Mehr als bereit!“, erwiderte ich und winkte ihm abschließend zu, ehe ich die Kabine verließ und meine Garderobe aufsuchte. Auf dem Weg dorthin und während des Umziehens grübelte ich über meinen zukünftigen Bühnenpartner nach. Konnte es vielleicht sein, dass sie Marius engagieren wollten? Immerhin war er seit jeher einer der beliebtesten (und meiner Meinung auch besten) Grafen, die noch unter den Lebenden weilten. Außerdem konnte ich mehr als gut mit ihm auf der Bühne agieren. Vielleicht war das aufgefallen, als er eingesprungen war, und nun entschied man sich, aus uns ein neues Musical-Traumpaar zu machen. Die Vorstellung brachte mich fast zum Lachen. Aber es wäre wirklich schön und erleichternd, mit Marius zu spielen – erleichternd, weil wir gute Freunde waren und beide eine Leidenschaft für dieses Musical hatten.
Die ganze Sache machte mich ziemlich aufgeregt, sodass ich mich kaum auf das Stück vorbereiten konnte. Als die Overture dann aber anfing, überkam mich meine typische Nervosität und freudige Erwartung, und ich konnte es kaum abwarten, endlich in meine Wanne zu klettern und zu spielen. Das Wissen, dass ich bald nicht nur die Ersatz-Sarah sein würde, verlieh mir neue Energie, und die Show machte so viel Spaß wie nie.

Nach der Vorstellung zog ich mich so schnell um, wie ich konnte, und empfing Sarah im Foyer, wo sie auf mich wartete.
„Schöne Show!“, begrüßte sie mich. „Mensch, ich hatte ganz vergessen, wie toll Tanz der Vampire ist! Rot steht dir übrigens gut.“
„Meinst du das Blut oder das Kleid?“, entgegnete ich grinsend. Sie lachte.
„Beides. Das Kleid ist wunderschön. Solltest du öfter tragen.“
„Tja, das werde ich auch bald. Jeden Abend außer Montag.“
Sie sah mich mit großen Augen an. „Soll das heißen…?“
Ich nickte, und sie schloss mich herzlich in die Arme. „Anouk, herzlichen Glückwunsch!“
Zu meiner Überraschung begann ich, vor lauter Freude zu weinen. So lange hatte ich mit niemandem richtig darüber gesprochen, und Sarah war die erste, die mich in dieser Beziehung durch und durch verstand.
„Wer, meinst du, wird der Graf?“, fragte sie, als wir durch die Stadt gingen und uns ein gemütliches Restaurant suchten.
„Ich habe keine Ahnung. Felix machte ein paar Andeutungen, es sei schon längst einer gefunden, aber wer es ist… kann ich nicht sagen. – Ich hoffe, es ist Marius!“
Sie seufzte. „Oh ja, das wäre wunderbar! Ich würde ja sagen, ich werde oft vorbeikommen, aber dummerweise haben wir die gleichen Arbeitszeiten.“
Wir plauderten noch ein wenig über dies und das, und beim Essen erzählte ich ihr auch von Mrs. Paiges Angebot, zu unterrichten.
Auch Sarah bestärkte mich, die Schule zu kontaktieren, und ich fasste den Entschluss, so bald wie möglich nachzufragen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 21.10.2014, 18:57:33

Das ist eine gute Idee, aber wie soll sie da unterrichten, wenn sie in Berlin ist? Oder habe ich da was falsch verstanden?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 21.10.2014, 19:10:58

Schöner Teil. Vielleicht lassen sich ja Workshops organisieren? Dafür bekommt sie ja auch mal frei. Bitte bald weiter und spann uns mit dem Grafen nicht zu lange auf die Folter ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 23.10.2014, 17:22:34

armandine hat geschrieben:Das ist eine gute Idee, aber wie soll sie da unterrichten, wenn sie in Berlin ist? Oder habe ich da was falsch verstanden?

Vielleicht hab ich mich etwas falsch ausgedrückt: Anouk soll nur einmalig die Schule besuchen und ein bisschen unterrichten. Nichts festes also ;)
Und hier ein neuer Teil:

Kurz vor den spielfreien Ostertagen unterschrieb ich meinen Vertrag. Falls nicht ein Komet in das Theaterdach fliegen und sämtliche Bühnenteile zerstören würde, würde ich in knapp zwei Monaten die neue Sarah spielen.
Dieses Wissen plus die Freude darüber, Liam wieder zu sehen, machten meine kurze Reise nach Hamburg noch aufregender, als sie ohnehin schon für mich war. Wie versprochen holte er mich am Bahnhof ab. Er hatte sich kaum verändert – die Haare waren etwas länger als gewohnt und anscheinend war er einer der Sorte Mann, die niemals aufhören würden zu wachsen, wie ich feststellte, als wir uns in die Arme schlossen.
„Ich nehme dir deine Koffer ab“, sagte er und griff nach meinem Gepäck, und weil ich noch etwas schwindlig von unserem Begrüßungskuss war, protestierte ich nicht.
Er fuhr mich mit einer alten Karre durch Hamburg, und ich dachte wieder mal daran, dass es dringend Zeit wurde, einen Führerschein zu machen. Schließlich musste ich als Schauspielerin mobil sein. Allerdings blieb mir nur wenig Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn Liam redete unentwegt auf mich ein und kommentierte alles, was halbwegs besonders an Hamburg war und auf unserer Wegstrecke lag.
Liams Wohnung, oder besser Apartment, war unerwartet schick.
„Ich habe gespart“, sagte er stolz, als ich mich bewundernd umsah, „ziemlich lange. – Gefällt’s dir?“
Ich nickte und strich über die Couchlehne. „Allerdings. Genau mein Stil.“
Er schloss von hinten die Arme um meine Mitte. „Das freut mich“, murmelte er in mein Haar und griff halb hinter sich. „Das hier wird dir bestimmt noch mehr gefallen. – Augen zu!“
Gehorsam schloss ich die Augen und zuckte ein wenig zusammen, als er meine Hand nahm, sie sacht öffnete und etwas hineinlegte. Es fühlte sich glatt an, und als ich die Finger darum schloss, bemerkte ich, dass es Papier war. Ich öffnete die Augen wieder und starrte darauf. Es war eine Eintrittskarte mit einem großen, schwarz-weißen Löwenkopf auf der rechten unteren Ecke. Ich starrte darauf.
König der Löwen?“, fragte ich dann begeistert. Liam zog eine zweite Karte, offenbar für sich, hervor.
„Allerdings nur Parkett 3“, sagte er entschuldigend. „Auch als Darsteller sollte ich insgeheim gegen hohe Ticketpreise kämpfen, oder?“
„Wenn sie dir den Lohn kürzen, wirst du’s bereuen“, schmunzelte ich, aber dann drehte ich mich um und strahlte ihn an. „Ist doch egal, wo wir sitzen. Hauptsache, wir haben endlich Zeit füreinander.“
Und die hatten wir an diesem Abend wirklich...

Unser Besuch bei König der Löwen war wunderschön. Es tat gut, wie normale Zuschauer im Theater zu sitzen, einfach ein Pärchen inmitten der Anderen, Händchen haltend und Fanartikel kaufend.
„Thenjiwe Thendiva Nofemele. Balungile Numede. Sakhumzi V.N. Mbele. – Tja, ich schätze, wir beide haben hier schlechte Karten“, sagte ich in der Pause, als ich die Darstellerliste las.
Wobei ich unbewusst ein schon einmal besprochenes Thema ansprach.
„Bist du eigentlich sauer auf mich?“, fragte Liam und griff nach meiner Hand.
„Sauer? Warum das denn?“, fragte ich stutzig.
„Na ja, wegen der… Sache am Telefon. Wegen-“
„Entschuldigung?“, unterbrach uns jemand. Wir drehten uns um und begegneten den Augen einer Frau Anfang dreißig. Sie sah uns begeistert an.
„Mann, Sie sind ja wirklich ein Paar!“, platzte sie heraus, sah dabei allerdings überwiegend Liam an. „Ich habe sie vorigen Monat als Phantom gesehen. Ich bin ein riesiger Fan, dürfte ich ein Autogramm haben?“
„Aber sicher.“ Liam ließ kurz meine Hand los, um auf dem König der Löwen-Flyer der Frau zu unterschreiben, und ich musste mir ein lautes Lachen verkneifen, als noch vier weitere begeisterte Musicalliebhaber schüchtern ihre Kugelschreiber zückten.
„Am besten, wir gehen zurück zu unseren Plätzen“, murmelte Liam, ehe noch weitere Gäste ihn belagern konnten.
„Was wolltest du denn nun sagen?“, nahm ich das Gespräch wieder auf, als wir saßen.
„Na ja, du wolltest doch“, er begann zu flüstern, „dass ich mich für Krolock bewerbe.“
„Du denkst, ich bin sauer, weil du gar nicht darüber nachgedacht hast?“ Ich überlegte kurz. „Erst war ich’s. Aber im Nachhinein ist mir klar geworden, dass du nicht einfach das Phantom aufgeben kannst. Das ist ja schon eine Nummer größer als Krolock.“
„Ich würde wirklich gerne mit dir spielen“, sagte er bedrückt und nahm abermals meine Hand in seine. „Ich vermisse dich.“
„Jetzt bin ich ja da“, erwiderte ich und lehnte mich an ihn, als das Stück weiterging.

Der nächste Tag begrüßte uns mit Regen und einem endlos grauen Himmel voll fliehender, wattiger Wolken, und entgegen unseres Planes, Hamburg anzusehen, machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich und gingen einem meiner alten Rituale nach: wir besuchten diverse Foren und informierten uns über die allgemeine Meinung, die man über uns hatte.
„Sieh dir das an“, sagte Liam und deutete auf einen Kommentar. „Der Besuch war ein Alptraum, zu kleines Orchester, Einsparungen in jeder Szene deutlich erkennbar. Besonders das Phantom ist eine einzige Enttäuschung. Haben sie jetzt schon so wenig Geld, dass sie sich nur noch Anfänger leisten können und durch alle Rollen spielen lassen? – Interessant.“
„Dafür liebt dich dieser Fan hier“, entgegnete ich und scrollte hastig weiter nach unten. „So ein hübscher Mann und so eine Wahnsinnsstimme“, las ich absichtlich mädchenhaft vor. „Er hat mich vom ersten Moment an gefesselt. Autogramm und Foto hängen bereits, und der nächste Besuch steht an. Großes Lob!“ Ich sah ihn an. „Soso, du machst also Fotos mit den Fans?“
Er grinste schief. „Wenn sie sich drüber freuen.“
„Ich mach’s doch auch“, erwiderte ich. „Und früher. Wollte ich auch immer Fotos mit Darstellern“, gab ich kleinlaut zu, woraufhin er lachte. Die durchwachsenen Kritiken prallten glücklicherweise einfach von ihm ab.

Meine Abreise kam schneller, als mir lieb war, und auf dem Bahnhof wollte ich Hamburg am liebsten gar nicht mehr verlassen – oder Liam einfach am Kragen packen und in den Zug schleifen.
„Versprichst du mir, dass wir wenigstens öfter telefonieren?“, fragte ich, als mein Zug angesagt wurde. Seine Antwort verzögerte sich durch einen letzten, langen Kuss.
„Versprochen“, sagte er. „Ich werd’s versuchen.“
Der Zug fuhr langsam ein.
„Kommst du zur Premiere?“, wagte ich eine letzte, hoffnungsvolle Frage zu stellen. Er zögerte kurz. „Ich weiß nicht“, sagte er dann wahrheitsgemäß. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Ich wusste genug, um zu erraten, dass seine Antwort eher ein Nein als ein Ja war. Aber, dachte ich, als ich in den Zug stieg, damit müssen wir beide leben.
Ich bemerkte, dass uns beiden wohl nie so recht klar gewesen war, wie schwierig eine Beziehung als Schauspieler sein konnte.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 23.10.2014, 21:29:25

Ein schöner Teil. Es freut mich, dass die beiden endlich mal Zeit füreinander gefunden haben. Sie scheinen die örtliche und zeitliche Trennung deutlich besser zu verkraften als die beiden in meiner Geschichte - und ich gönn es Anouk von Herzen! Allerdings hast du damit gut von der Graf-Problematik abgelenkt ;) Ich bin sehr gespannt, wie es bei den Vampiren nach dem CW weitergeht. Bitte bald einen neuen Teil!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 24.10.2014, 14:50:42

Auch von mir gibt's wieder einen neuen Teil - und auf den hab ich mich schon lange gefreut!

Kaum zurück in Berlin, hatte mich auch schon der Alltag wieder und es blieb kaum Zeit, zu lange wegen Liam Trübsal zu blasen. Linda machte große Fortschritte in unseren Stunden, ich half meinen Eltern, die Berlin-Reise für meinen Castwechsel zu organisieren. Außerdem gab es einige Umstrukturierungen in der Besetzung, die zusätzliche Proben erforderten.
Derweil ging das Rätselraten um den neuen Grafen weiter, und als der Castwechsel immer näher rückte und wir begannen, uns ganz unverblümt darüber lustig zu machen, wurde das Geheimnis endlich aufgelöst – kurz vor einer Show. Emmanuel überbrachte uns die frohe Botschaft.
„Ich denke, es ist Zeit, euch zu verraten, wer in Zukunft an eurer Seite den Grafen spielen wird“, begann er, wie üblich ein wenig durcheinander. „Nun, da alle Verträge unterschrieben sind. Es handelt sich um Alexej Ivanow. Einige kennen ihn vielleicht; er spielt seit knapp anderthalb Jahren den Grafen in der russischen Produktion von Tanz der Vampire. Um allen Fragen und Einwänden zuvorzukommen: er spricht ausgezeichnet Deutsch, da er schon einmal hier in einem Musical mitgewirkt hat.“
Ich versuchte, nicht zu enttäuscht oder verwundert zu sein – schließlich war mir schon länger unterschwellig klar, dass es nicht Marius sein konnte, denn sonst hätte er mich sicher schon angerufen. Von Alexej Ivanow hatte ich allerdings noch nie etwas gehört. Ich verfluchte Emmanuel insgeheim dafür, dass er uns diese Neuigkeit so unmittelbar vor der Show mitgeteilt hatte, denn ich hatte an diesem Abend große Mühe, mich irgendwie auf meine Auftritte zu konzentrieren. Weil meine Gedanken ständig um den neuen Darsteller kreisten und sich langsam eine unvermeidliche Aufgeregtheit einstellte.
Und weil sich ein altbekanntes Problem wiedermeldete.

Es war der lang ersehnte Tag, an dem wir das erste Mal mit den neuen Darstellern proben würden.
Und natürlich ging alle schief.
Ich hatte auf dem Weg zum Theater versucht, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen, aber es war so schwer, wenn meine Gedanken immer wieder zu Liam zurückkehrten und sich eine Frage unerbitterlich aufdrängte: kümmerte ihn unsere Beziehung nicht mehr? Alles war so schön, noch vor einigen Wochen waren wir gemeinsam glücklich in Hamburg gewesen. Er hatte mir versprochen, mich anzurufen. Ich vermisste ihn immer noch jeden Morgen, jeden Abend, aber die Wut auf ihn wurde immer größer. Meine Beziehung war ein einziges Hin und Her, bestehend aus Höhen und Tiefen – und diese Tiefen schienen mit jedem düsteren Gedanken, jedem Tag voller Zweifel an ihm größer. Ich spürte, dass ich ihn liebte, aber ich spürte auch, dass mir etwas fehlte – das war nicht nur seine Person, sondern das Gefühl von Geborgenheit, das Gefühl, geliebt und auf eine vertraute Weise bewundert zu werden. Freundliche Worte, liebevolle Blicke und sanfte Berührungen – all das gab ich schon viel zu lange auf, und jeden Tag wuchs der Gedanke, dass unsere Beziehung das nicht mehr lange durchhalten würde – dass ich das nicht länger durchhalten würde. Irgendetwas musste sich ändern, denn ich wollte Liam auf keinen Fall aufgeben.
Lukas, der seinen Vertrag als Alfred verlängert hatte, sah mir meine schlechte Laune sofort an. Er war einer der nettesten Personen aus dem Ensemble, wie ich fand, wir waren schon einige Abende gemeinsam als Freunde unterwegs gewesen und hatten Hinterm Horizont besucht. Er wusste über meine Gedanken bezüglich Liam Bescheid und erriet sofort, was mich bedrückte.
„Er hat sich nicht mehr gemeldet“, stellte er nüchtern fest, als ich vor ihm stand, die Hände in den Manteltaschen vergraben.
„Nicht mehr seit Wochen“, bestätigte ich. „Und ans Handy geht er seit zwei Tagen gar nicht mehr.“
„Vielleicht ist ihm ja was passiert“, meinte er, während wir den Theatersaal betraten. Ich schnaubte.
„Erstens glaube ich, dass man mich dann ganz sicher anrufen würde, und zweitens…“ Ich seufzte. „Nein, ich glaube, er denkt einfach nicht daran.“
„Du meinst, er hat dich vergessen?“ Er ließ mir den Vortritt, und ich schob mich in unsere Stammsitzreihe. „Das würde bei mir ja das Aus bedeuten.“
„Nein, nicht vergessen. Es... Ist schwer zu erklären. Ich meine – er ist das Phantom. Er hat Interviews, Auftritte außerhalb. Aber nicht mal darüber bin ich richtig informiert.“ Frustriert ließ ich mich auf den Sitz fallen und knibbelte am Etikett meiner Limoflasche. „Es würde ja schon reichen, wenn wir einmal die Woche ordentlich reden können.“
„Vielleicht solltet ihr euch einfach mal aussprechen“, schlug er vor.
Ja, das war wohl das beste. Aber wie sollte das gehen, wenn er nie erreichbar war?
Die nächste Hiobsbotschaft ließ nicht lange auf sich warten: Alexejs Flug war aufgrund eines kürzlich beendeten Pilotenstreiks später gestartet; er würde später ankommen.
„Organisiert, wie immer“, murmelte Emmanuel vor sich hin und trommelte mit dem Kugelschreiber auf dem Regisseurenpult herum. „Okay, Planänderung“, rief er dann. „Wir proben schon einmal den ersten Akt, sonst rennt uns nämlich die Zeit davon. Also, alle zum Einsingen, kurzes Aufwärmen, in fünfzehn Minuten will ich euch alle konzentriert sehen!“
„In der Pause rufe ich ihn noch einmal an“, teilte ich Lukas leise meinen Entschluss mit. „Einmal noch. Dann werde ich so lange warten, bis er sich meldet.“
Lukas grinste und schlug mir auf die Schulter. „Selbst ist die Frau! Immer standhaft bleiben!“

Ich legte verärgert auf und ging wieder zurück zu dem kleinen Grüppchen, das wie zu Beginn der Pause plaudernd herumstand.
„Und?“, fragte Lukas, als er bemerkte, dass ich wieder da war. Ich hob die Schultern.
„Nichts. Aber das war wirklich das letzte Mal, dass ich angerufen habe.“ Diesen Entschluss hatte ich eben so spontan gefasst, dass ich erst daran zweifelte. Aber jetzt musste ich mir selbst recht geben: ich konnte Liam nicht ewig hinterher rennen. Wenn er schon auf meine Versuche, ihn zu erreichen, nicht antwortete, dann würde er es vielleicht auf mein Schweigen tun.
„Er verspätet sich total“, stellte Lukas unnötigerweise fest, als Emmanuel zum dritten Mal nach Alexej geschaut hatte. „Hast du ihn dir schon mal angesehen?“
„Nein, wie auch?“, entgegnete ich. Er verdrehte die Augen.
„Nutzt du nicht auch dieses… Internetz?
Ich setzte zu einer Antwort an, aber Emmanuel unterbrach mich mitten im Satz.
„Ich habe gehört, Alexej ist auf dem Weg“, rief er. „Anouk, mach dich schon mal bereit, alle anderen: sucht euch einen Platz! Wir beginnen endlich.“ Es war nicht zu überhören, dass er sich über die Verspätung des Hauptdarstellers ebenso ärgerte wie wir – auch wenn der eigentlich nichts dafür konnte. Ich setzte mich auf die Bühne und unterhielt mich ein wenig mit dem Dirigenten, bis Alexej endlich ankam. Ich stand auf, um ihn zu begrüßen, aber Emmanuel belagerte ihn völlig und redete hektisch auf ihn ein. Ich hätte ohnehin kein Wort herausgebracht.
Alexej war – und bei manchen Männern musste man es zugeben, selbst wenn man in einer Beziehung war – unglaublich sexy. Er war ziemlich groß, sogar größer als Liam, und schlank, mit einem schmalen, etwas kantig geschnittenen Gesicht. Seine Augen waren dunkel, aus der Ferne sahen sie fast schwarz aus, genau wie seine glatten Haare. Ich bemerkte, dass ich glotzte, und wandte mich halb ab indem ich vorgab, niesen zu müssen. In Wahrheit aber sammelte ich meine Gedanken wieder und lenkte sie auf Liam, aber das löste ein eigenartiges Gefühl in mir aus: in etwa so wie das Licht am Ende des Tunnels. Gar nicht gut.
Ich drehte mich um, und jetzt stand Alexej etwas verloren auf der Bühne. Ich rief mir in den Geist, dass ich Schauspielerin war, setzte eine unbefangene Miene auf und ging selbstbewusst auf Alexej zu, um ihn zu begrüßen.
„Hi, ich bin Anouk“, stellte ich mich vor und gab ihm die Hand.
„Alexej“, erwiderte er. „Es tut mir leid, wenn ihr lange warten musstet.“ Sein Deutsch war gut zu verstehen, und der Akzent stört gar nicht. Es würde sogar zum Grafen passen – es macht ihn irgendwie noch anziehender! Ich schüttelte kurz den Kopf über meine Gedanken.
„Äh… nein. Ich meine, klar mussten wir lange warten, aber… wir haben einfach schon den ersten Akt geprobt und jetzt… bist du ja da.“ Ich starrte kurz auf den Boden und beschloss dann, einfach zu meinem Platz im Off zu gehen und Emmanuel zu bedeuten, dass ich endlich anfangen wollte.
Die drei Sekunden, die es dauerte, ehe das Orchester losspielte, atmete ich tief durch. Du bist verwirrt, Anouk, und müde. Deine erste offizielle Probe als Sarah, ein verspäteter und neuer Graf, Liam hat auch keine Zeit – entspann dich, alles wird sich regeln. Ich atmete noch einmal aus und fühlte mich befreiter. Ja, alles würde sich regeln. Ich war einfach aufgeregt, weil mir etwas Großes bevorstand.
Meine Entspannung hielt genau eineinhalb Minuten, denn das Große, das mir bevorstand, war zweifellos Alexej: seine Stimme war der Traum eines jeden Musicalliebhabers: samtig, dunkel, sehr durchdringend – hätte man mir diese Stimme vorgespielt und mehrere Fotos vorgehalten, ich hätte sie zweifellos Alexejs Gesicht zugeordnet. Ich musste mich zwingen, ihm nicht zuzuhören, sondern aufmerksam zu warten, bis mein Einsatz kam, und meine Anspannung rettete mich vor einer weiteren Blamage – ich verpasste keinen meiner Einsätze. Trotzdem war es ein irgendwie… beklemmendes Gefühl, ihm gegenüber zu stehen, und als er seine letzten Zeilen sang, waren mir seine Hände auf den Armen auf eine angenehme Weise unangenehm. – Ich war definitiv verwirrt.
„Wow, er ist gut!“, stellte Lukas fest, als ich mich auf meinen Platz neben ihm fallen ließ und nach meiner Wasserflasche griff. „Noch besser als in den Videos. Oder?“
„Ich kenne kein Video von ihm!“, antwortete ich gereizter als beabsichtigt. Ich räusperte mich. „Entschuldige. Ich meine: ja. Er ist gut… auf seine Weise.“
Danach versuchte ich, jedes weitere Gespräch zu vermeiden.
Die Ballsaal-Szene ging ich höchst widerwillig an, aber ich hütete mich, das jemandem zu zeigen. Stattdessen gab ich an, müde zu sein und Kopfschmerzen zu haben, und Emmanuel meinte: „Ein Grund mehr, um schnell und präzise zu arbeiten.“
Ich wartete oben auf der Treppe, während Alexej sang, und stieg ohne Probleme herunter. Dabei musste ich an meine erste Show denken, in der ich gestolpert war, und mir seltsamerweise ein Lachen verkneifen. Meine Mundwinkel taten schon weh, als Alexej mich endlich zurückwarf und mich „biss“. Um mich abzulenken, machte ich mir eine gedankliche Notiz, dass ich ihn daran erinnern müsste, dass mein Dekollete kein Abfalleimer war – für den Fall, dass er es mit den Blutbeuteln genauso hielt wie Felix. Und als er mich über die Bühne trug, resignierte ich und nahm es hin, dass ich eine Gänsehaut bekam, als sein „du hast dich gesehnt danach, dein Herz zu verlier’n/ Jetzt verlierst du gleich den Verstand“ erklang. Schließlich hatte ich mein Herz ja schon verloren – an Liam. Und meinen Verstand würde ich ganz sicher für mich behalten.
Oder?
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben


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