Schön dass es euch gefällt
Nächster Teil:
Probenbeginn. Ich stellte mich vor den Spiegel und atmete tief ein, und beim Ausatmen verzog sich mein Mund zu einem Lächeln. Ich war aufgeregt, aber nicht ängstlich. Ich wollte proben, ich wollte nirgendwo anders sein als in einem Theater.
„Ist das nicht schön?“, fragte ich Liam, als wir in der Küche saßen, „wir stehen gemeinsam auf, frühstücken zusammen, gehen zur Arbeit und kommen abends heim…“
„Nachts meinst du wohl eher“, sagte er mit einem Blick auf meinen Probenplan, den Harold scherzhaft an den Kühlschrank geklebt hatte. Ich folgte seinem Blick. „Na ja, aber sonntags habe ich frei und samstags nur den halben Tag.“
„Halber Tag steht da nur, um den Schauspielern ihr Zeitgefühl zu rauben“, brummte er. „Weißt du noch, wie wir auf der Schule mal Unterrichtende um 13 Uhr hatten und uns total freuten? Als wir rauskamen, war es fünf.
Fünf!“
„Beim Proben vergeht die Zeit ja auch wie im Flug!“, rechtfertigte ich den Plan und die Vergangenheit. „Sieh lieber zu, dass deine Schüler ordentliche Techniken lernen!“
Liam, Harold und ich verließen gemeinsam das Haus; Ilene widmete sich montags und dienstags ihrem Roman. Harold setzte auf dem Weg erst Liam, dann mich ab, wodurch ich ziemlich früh da war. Die Probenräume befanden sich fürs Erste in einem kleinen Theater. Heute war eine gemeinsame Einstiegsprobe – ein erstes Kennenlernen. Ab morgen aber waren unsere Probenzeiten klar durchstrukturiert: Tanz, Gesang, Szene, alles war in feste Zeiten gegliedert. So hatte ich donnerstags zwei Mal zwei Stunden Pause, die aber so ungünstig gelegt waren, dass es sich kaum lohnen würde nach Hause zu fahren, mittwochs würde ich aber kaum zum Verschnaufen kommen: Der Tag begann um neun mit Gesang Einzel, dann ging es weiter mit Choreographie und Szene, später sofort Duettprobe und anschließend wieder Szene – welche, das war nicht immer klar. Und ab nächster Woche, wurde mir erschreckend klar, würden auch schon die Kostümfittings anstehen! Bei der Erinnerung an das ständige An- und Ausziehen der Elisabeth-Garderobe wurde mir heiß und kalt.
Heute aber stiegen wir mit einem langen Regievortrag ein und ersten Tanzproben, Formalien wurden immer wieder zwischendurch geklärt sowie ständig Fotos gemacht, um die Probeneindrücke einzufangen. Meine erste Gesangsprobe fand mit dem kleinen Matt statt, der Gustave spielen sollte und auf meine naive Frage, ob er aufgeregt sei, ganz locker antwortete: „Ehrlich gesagt ist alles etwas langweilig, bei Billy Elliot haben wir mehr gemacht, und bei Les Mis auch.“ Ups, ich hatte es wohl mit einem Profi zu tun! Dadurch gestalteten sich die Proben aber auch sehr angenehm, denn er war wirklich talentiert und konnte umsetzen, was man ihm sagte.
Der Tag floss etwas träge dahin, ich hatte nur lose Kontakt zu dem Ensemble, aber das sollte sich schon am nächsten Tag ändern: nachdem ich in meine Probensachen geschlüpft war, ging es sofort los mit
Christine Disembarks, und die anschließende Duettprobe mit Adam Crivello machte großen Spaß. Adam war ein recht ernster, etwas verschlossener Charakter, aber als er merkte, dass er mich mit seiner Stimmgewalt etwas unterdrückte, passte er sich mir an, bis ich den richtigen Ausdruck gefunden hatte und mit ihm agieren konnte. Natürlich widmeten wir
Beneath a moonless sky viel Zeit und Ausdauer, und neben dem bloßen Proben besprachen wir auch ausführlich mit dem Coach und den Regisseuren, worauf der Song hinauslief, was unsere Geschichte war, wie wir die Rollen agieren lassen wollten… Adam sprach nicht oft mit mir, ich konnte ihn erst nicht einschätzen und hatte manchmal ein etwas mulmiges Gefühl, andererseits war ich auch genervt und ratlos. Umso erstaunter war ich, als er sich in einer kurzen Pause an mich wandte: „Du hast eine großartige Stimme“, sagte er.
„Oh“, machte ich und wusste vor Überraschung erst nicht, was ich sagen sollte außer „Danke“. Dann kamen mir langsam Worte in den Sinn. „Na ja, an deine Lautstärke komme ich allerdings noch nicht ran… Vielleicht solltest du kein Mikrofon tragen?“, versuchte ich einen schwachen Witz, aber er wirkte. „Wahrscheinlich bin ich immer noch im Valjean-Modus, da konnte ich wirklich über mich hinauswachsen. Und ich hatte eine tolle Gesangstrainerin, Amy Schuber, falls sie dir was sagt“ (allerdings!), „sie hat ungeahnte Kräfte in mir freigesetzt.“
„Dann solltest du dir das besser nicht abgewöhnen…“
„Ich will dich nicht übertönen. – Übrigens,
Elisabeth war klasse!“, wechselte er abrupt das Thema.
„Du hast es gesehen?“, fragte ich ungläubig – das hätte mir doch jemand erzählt, wenn er im Publikum gesessen hätte?
„Nicht live, aber ich habe eine Aufnahme zugeschickt bekommen. Jetzt bereue ich, dass ich nicht da sein konnte.“
„Wenn ich noch mal Elisabeth spiele, reserviere ich dir eine Karte“, scherzte ich, und endlich war das Eis zwischen uns gebrochen: in Plauderlaune fiel es uns schwer, wieder zurück zur ernsten Probe zu kommen.
Nach der ersten Probewoche war ich völlig platt. Liam holte mich Samstagnachmittag nach den Proben ab und schlenderte mit mir durch die Stadt, aber ich war zu müde, um mich für die Sehenswürdigkeiten richtig erwärmen zu können, also traten wir schnell wieder den Heimweg an. Liam schlug vor, ein paar Filme zu schauen, und seine Eltern ließen uns taktvoll und ohne darum gebeten worden zu sein allein. Ich hörte sie oben werkeln, Ilene tippte unablässig auf dem PC und Harold hörte leise Radio.
Wir sahen
Midnight in Paris an, aber ich schlief nach den ersten fünfzehn Minuten ein. Als ich wieder aufwachte, war es bereits dunkel. Im Dämmerlicht der Stehlampe sah ich Liams Silhouette, er machte sich am Fernseher zu schaffen.
„Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er, als er bemerkte dass ich wach war.
„Nein, schon gut“, erwiderte ich rasch, „ich bin jetzt viel wacher… Diese intensiven Proben bin ich wohl nach Elisabeth nicht mehr gewöhnt.“
Tatsächlich fühlte ich mich viel ausgeruhter, und wir sahen uns noch die Verfilmung von
Les Misérables an, wobei das Ansehen sich eher auf kräftiges Mitsingen, Imitationen und Kritiken beschränkte – „Toll dass sie jemanden nehmen, der gar nicht singen kann – Hauptsache namhaft“, „Wow, merkt er nicht, dass er’s nicht mehr drauf hat?“, „Fantastisch, sie ist perfekt“ und so weiter.
„Würdest du so etwas machen wollen?“, fragte Liam nach einer Weile.
„Was?“
„Na, Film.“
Ich lachte. „Nee! Die Bühne ist mir lieber.“
Er legte den Arm um mich. „Mir auch.“ Er küsste mich, und dann knutschten wir eine Weile rum, aber mit dem untrüglichen Instinkt eines Vaters kam Harold die Treppe runter und räumte im Wohnzimmer im Regal rum, also richteten wir Kleidung und Haare und sahen brav den Film zu Ende, obwohl wir in anderer Stimmung waren.
„Lass uns hochgehen“, murmelte Liam, kaum dass der letzte Ton verklungen war, aber nachdem wir an Liams Mutter vorbeigekommen waren, die immer noch schrieb, standen wir uns bloß ratlos gegenüber. Probeweise küssten wir uns wieder, aber Liam machte sich rasch wieder los. „Also… ich kann irgendwie nicht, wenn meine Eltern dabei sind…“
Ich kicherte. „Nee, ich auch nicht…“
Eine Weile kramte ich in meinem Nachttisch, Liam stand auf dem Balkon und sah zu den Nachbarn. Als ich zu ihm kam, nahm er mich in den Arm.
„Sieh mal nach rechts“, sagte er leise. Über dem Balkongeländer hing Unterwäsche, wie Harold gesagt hatte, aber es war eigentlich ganz hübsche.
„Wenn sie selbst das stört“, murmelte er zwischen Resignation und Belustigung, „können wir unseren Sex wohl vergessen.“
„Bestimmt gehen sie mal abends aus“, murmelte ich, „oder Sonntagsmorgens in die Kirche…“
„Trotzdem“, erwiderte er. „Ich habe meine Meinung geändert: wir brauchen ganz dringend eine eigene Wohnung.“
Die Wohnungssuche gestaltete sich allerdings erst einmal schwierig. Mein einziger freier Tag war der Sonntag, und allein wollte Liam keine Wohnungen besichtigen. Anfangs hatte ich es bei Liams Eltern gemocht, aber inzwischen fehlten trotz unserer begrenzten gemeinsamen Zeit dringend benötigte Freiräume. Auch ich sehnte mich danach, abends ein gemeinsames Essen zu haben und viel Zeit im Bett zu verbringen, ohne Tür an Tür mit den Eltern zu sein… Aber in der zweiten Probenwoche nahm mich der Stress endgültig gefangen: ich musste zur Anprobe, zum Make-up Fitting, musste mir Abläufe merken, Änderungen so schnell wie möglich lernen und umsetzen, kurzfristige Planänderungen in Kauf nehmen und weiter an meinem Gesang feilen. Die Arie, obwohl schon lange vertraut, hatte höchste Priorität, und abends klingelten mir regelmäßig die Ohren von meinem eigenen Gesang.
Ilene, die unser Streben nach mehr Freiraum natürlich mitbekommen hatte, nahm uns eines Abends beiseite.
„Hört mal, ihr beiden“, sagte sie. „Euer ständiges Getuschel macht mir Sorgen, vor allem weil ich es nicht verstehe. Gibt es Probleme?“
„Ach nein, eigentlich nicht“, setzte ich an – immerhin nahmen sie uns gastfreundlich auf, uns, zwei erwachsene Leute! – aber Liam sagte ehrlich und rundheraus: „Mum, wir halten es hier nicht mehr lange aus.“
Ich senkte den Blick und schämte mich bereits für ihn, aber Ilene lachte bloß. „Ja, das dachte ich mir fast. Wer will schon in diesem Alter mit Eltern und Schwiegereltern zusammen leben?“ Sie zwinkerte mir zu, dann wurde sie ernst. „Ich kann verstehen, dass ihr Zeit für euch wollt, aber bitte: wartet noch eine Weile, wenigstens bis zu Anouks Premiere, bis alles seinen Gang läuft. Wie wollt ihr jetzt einen Umzug schaffen? Wenn sie Zeit genug hat und du eingearbeitet bist, könnt ihr euren Tag flexibler planen.“
Sie sprach so vernünftig, dass sogar Liam einsah, dass ein Umzug unmöglich war.
„Ach, und wenn ihr mal allein sein wollt“, sagte sie im Gehen und zwinkerte uns zu, „dann sagt doch einfach Bescheid, wir gehen oder stellen den Fernseher laut. Euch hat ja auch nicht einfach der Storch gebracht.“
„Oh, Mum“, sagte Liam und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich lachte, aber ich wusste: jetzt gab es einen weiteren Grund, die Proben schnell hinter mich zu bringen.